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Paul verliess die Stadtwohnung, um Herg aufzusuchen.
Wie üblich benutzte er Nebenstrassen, um sein Haus am Stadtrand zu erreichen. Er ging über einen der Plätze, die das Zentrum eines Sechstels bildeten. Auf ein paar Bänken am anderen Ende des Platzes langweilte sich ein kleiner Trupp Knn, acht oder neun Mann. Unauffällig versuchte er, den Platz wieder zu verlassen und in einer Nebenstrasse zu verschwinden.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sich die Knn erhoben hatten und in seine Richtung kamen.
Er beschleunigte seine Schritte und nahm die nächste Abzweigung nach rechts. Schon nach kurzer Zeit stellte er fest, dass er eine grundfalsche Entscheidung getroffen hatte; vor sich vernahm er die typischen Schritte von Stiefeln mit harten Hacken.Er blieb stehen, die Schritte kamen schnell näher. Er drehte sich um und starrte in die Mündung einer Waffe.
"Halt, wer bist du", fragte der Knn kurz und scharf.
Paul murmelte ein paar Worte auf Negs, aber dann packte ihn eine Hand von hinten und zog ihn herum.
"Gib dir keine Mühe, Paul."
Er schaute in Oggrds Gesicht.
"Was wollt ihr von mir?"
"Wir sollten fragen, was willst du hier? Spionierst du hier rum? Egal, komm mit. Und versuche nicht zu fliehen, es würde mir nicht gefallen, jemanden zu erschiessen, den ich respektiere."
Eine Waffe wurde hart in seinen Rücken gestossen.
"Los, voran."
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Sie nahmen ihn in die Mitte, dann marschierten sie vielleicht einen halben Kilometer weit. Paul fragte sich, was sie vorhatten und bekam ein ausgesprochen mulmiges Gefühl.
Schliesslich waren sie bei dem Häuserblock der Knn angelangt und er wurde in eine Haustür gedrängt.
Er wurde sofort nach unten gebracht und in einen Kellerraum geschoben. Der Raum war von einigen Petroleumleuchten relativ gut beleuchtet, aber es roch reichlich muffig. An einer Wand sah er ein paar in der Wand festgemachte Haken – es fehlte nur das Skelett. Die Möblierung war spartanisch, fünf Stühle, ein kleiner Tisch, das war alles.
Die Knn wechselten einige Sätze, so schnell, dass er nichts verstehen konnte, dann wurde er von einigen kräftigen Armen gepackt und auf einem der Stühle festgebunden.
Oggrd verliess mit den meisten Leuten den Raum.
"Wir sind gleich wieder da", verabschiedete er sich, es klang bedrohlich.
Zwei Wachen blieben zurück und liessen sich in gegenüber liegenden Ecken auf Stühlen nieder.
Paul fragte sich, was die wohl von ihm wissen wollten. Sagen konnte er ihnen nicht viel, dazu war er zulange aus dem Dorf weg, seit seiner Flucht von dort war fast ein halbes Jahr vergangen. Natürlich konnte er die Knn recht ausführlich in die Geheimnisse des Umgangs mit den grossen Rindern einführen, aber ob das so interessant für sie war?
"Was wollt ihr von mir wissen?", fragte er die Wachen, aber die winkten nur gelangweilt ab.
Die Rolle der Knn in dem ganzen Spiel war Paul bis heute nicht klargeworden. Nach aussen waren sie die Beschützer der Negser vor den Menschen und das hatte ja dieses Jahr lang auch funktioniert.
Aber welche Ambitionen hatten die Knn? Wollten Sie den menschlichen Teil der Expedition auslöschen? Bisher hatten sie noch keine Anstalten dazu gemacht, aber die Menschen im Wald hielten sie für eine ständige Bedrohung.
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Die Knn hatten einfache, aber funktionsfähige Schusswaffen auf der Basis von Schwarzpulver gebastelt, aber wer weiss, was Kunold und die seinen im Wald entwickelten.
Vor den Negsern brauchten die Knn sich nicht zu fürchten. Die hatten sich mit der Besatzung abgefunden, da sie lediglich darin bestand, dass sie die Knn mitversorgen mussten. Die Knn hatten ihre landwirtschaftlichen Geräte etwas verbessert und ihnen ein paar Tricks zum Bewässern ihrer Felder gezeigt, das hatte einen Mehrertrag zur Folge, der die zusätzlichen hungrigen Mäuler leicht stopfen konnte. Da die Knn die Negser ansonsten zufrieden liessen, sahen diese etwas amüsiert über die gelegentlich etwas aufdringlichen und gönnerhaften Beschützermanieren der Knn hinweg.
Die Fesseln begannen zu schmerzen, seine Hände waren eingeschlafen. Er wusste aber nicht, ob er sich auf die Rückkehr der übrigen Knn freuen sollte. Ein tapferer Held war er sicher nicht und er hoffte, dass es die Knn bei einer einfachen Befragung beliessen. Andererseits, wieso hatten sie ihn dann in diesen Keller geschafft? Er fühlte, wie sich sein Magen langsam verkrampfte. Berichte von Folteropfern auf der Erde kamen ihm in den Sinn und er bekam Angst. Körperliche Gewalt war ihm eigentlich zuwider, nur wenn er ernsthaft angegriffen wurde, reagierte er ohne jedes Nachdenken äußerst brutal.
Er überlegte, wieso er sich in solchen Situationen so rücksichtslos wehrte. Als Erklärung fiel ihm eigentlich nur seine Angst ein, selbst schwer verletzt zu werden. Er hatte Angst, so kühl er vielleicht bei solchen Auseinandersetzungen wirkte.
Dabei fürchtete er eigentlich nicht den Schmerz – man ging ja schließlich auch freiwillig zum Zahnarzt - sondern die Ungewissheit, ob er einen bleibenden gesundheitlichen Schaden zurückbehalten würde und den Rest des Lebens als hilflose Person verbringen müsste. Auf dieser Ungewissheit und Ausweglosigkeit und nicht auf dem reinen Schmerz basierte ganz sicher auch die Wirkung von Folter. Die psychischen Spätschäden waren wohl genauso zu erklären, und jetzt sah er womöglich einem solchen Alptraum entgegen.
Er versuchte, seine Fesseln ein wenig zu lockern, aber natürlich vergebens; die Knn waren keine Trottel.
Dann hörte er einige Leute die Treppe herunterkommen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, kalter Schweiss lief seine Rücken herunter, eine leichte Panik liess ihn verkrampfen. Die Tür ging auf, Oggrd war zurückgekehrt, eine grosse Schachtel in der Hand.
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"Zwinge mich nicht, das" – hierbei zeigte er auf die Kiste – "zu benutzen."
Oggrd setzte sich vor ihn und sah im lange in die Augen.
Paul versuchte, dem Blick möglich kühl standzuhalten, aber er fürchtete, dass ihm das nicht überzeugend gelang. Ihm war mehr zum Weglaufen zumute als zum kühlen Blickwechsel.
"Was willst du eigentlich?", fragte er Oggrd, mühsam das Zittern in seiner Stimme unterdrückend.
Ach wäre er doch einer von diesen tapferen Helden, die jeder Situation gewachsen waren.
"Warum bist du hier in Negs?"
Paul versuchte wortreich zu erklären, wie er aus dem Wald geflohen war, wie er von den Negsern aufgenommen worden war und wie er fast ein Jahr unerkannt unten am Fluss gelebt hatte.
Oggrd wirkte nicht sehr überzeugt.
"Du hast den Negsern wohl auch die Knallfrösche spendiert, mit denen wir die Übernahme von Negs letztlich haben vereiteln können."
Paul nickte.
"Wer hat dich aufgenommen, wer hat dich versteckt?", fragte Oggrd weiter.
Paul schüttelte den Kopf.
"Keine Namen."
Ansatzlos schlug ihm einer der Knn, die hinter ihm standen, den Gewehrkolben so in die Rippen, dass ihm die Luft für ein paar Sekunden wegblieb.
Oggrd sah den Knn tadelnd an.
"Wir müssen erfahren, was er will, mach ihn nicht kaputt. Wir haben bessere Methoden."
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Er zeigte wieder auf die mitgebrachte Kiste, dann wandte er sich wieder an Paul.
"Ich will dir sagen, warum du keine Namen nennen willst. Deine rührende Geschichte von der Flucht und der Verfolgung kannst du irgendwelchen Kindern erzählen, nicht mir. Du bist hergekommen, um den Umsturz unserer Schutzmacht vorzubereiten und uns zu vernichten. Einige der Negser hast schon zu deinen Kumpanen gemacht, wie es scheint. Also, Namen. Du hast keine Chance."
Paul schüttelte den Kopf. Daher wehte der Wind! Die glaubten wirklich, er wolle in Kunolds Auftrag die Negser zum Umsturz des Knn-Regimes aufhetzen. Der gute alte Verfolgungswahn! Oggrd gehörte nicht auf den Stuhl, auf dem er sass, sondern auf die Couch eines erstklassigen Therapeuten.
Wenn er jetzt Namen nannte, würde er die entsprechenden Leuten sicher ans Messer liefern.
Paul wünschte, er hätte ein Glas Kaliumcyanidlösung, das wäre eine ziemlich endgültige, aber auch sichere Lösung des Dilemmas, in dem er sich befand. Wer weiss, als wie einfallsreich sich die Knn in ihren Befragetechniken herausstellen würden. Aber so schnell durfte er nicht aufgeben, er schüttelte wieder den Kopf.
"Keine Namen. Und deine Vermutung ist sowieso völlig aus der Luft gegriffen."
"Nun, wir haben keine Zeit zu verlieren."
Oggrd stand auf und ging zu der mitgebrachten Schachtel.
Paul versuchte, gelangweilt auszusehen, aber er wirkte wohl eher wie ein Kaninchen beim Blick auf die Königskobra.
Oggrd kam mit einem Gefäss wieder.
"Mit dem Zeug sagt jeder die Wahrheit. Wir haben das mal ausprobiert, das war richtig interessant. Die geheimsten Dinge werden preisgegeben."
Paul begann sich wieder etwas zu beruhigen.
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"Dann gib mir einen grossen Schluck. Du wirst sehen, ich lüge nicht."
Oggrd setzte ihm die Flasche an die Lippen.
Das Getränk schmeckte nicht einmal unangenehm. Ein wenig zu sehr nach Kräutern, fand Paul, auch ein wenig Zucker wäre nicht schlecht; aber es ging eigentlich.
"Kann ich noch einen?", fragte er, aber Oggrd lächelte nur gequält und winkte ab.
Eine Minute verging, eine weitere.
Pauls Gedanken wurden träge. Der Keller wurde heller und begann langsam, fast unmerklich, die Farbe zu ändern. Dann hatte er das Gefühl, dass sich der Stuhl, auf dem er sass, zu drehen begann.
Plötzlich sackte sein Kopf zur Seite.
"Da hat er wohl einen Schluck zuviel genommen."
Er wurde losgebunden, dann schlug ihm jemand ins Gesicht.
"Aufwachen, mein Freund!"
Er taumelte ein wenig und starrte auf den Boden. Genaugenommen fühlte er sich recht wohl, nur mit dem Denken, das klappte nicht mehr so richtig.
Dann hatte er das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Stromstoss versetzt. Er stand mit einem Mal kerzengerade und brüllte so laut und tierisch, dass die Knn erschrocken zurückwichen. Er schlug nach rechts und links aus, wobei er ein oder zwei Knn traf, die wie Puppen davonflogen.
Wie er auf die Strasse gelangt war, wusste er gar nicht mehr so richtig, aber er rannte los wie um sein Leben. Durch ein paar Gassen, über eine Strasse. Irgendwann fiel ihm in einer leeren Gasse ein Tor auf, das ein wenig offenstand. Er sprang hinein und lief über den Innenhof auf eine Tür zu.
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Im Haus taumelte er, dann stürzte er zu Boden. Durch den Aufprall kam er wieder etwas zu sich und er kroch wie in Trance erst eine, dann noch eine zweite Treppe hoch.
Oben gelangte er auf einen grossen Dachboden, in dem eine Menge Kleider herumhingen.
Was sollte das eigentlich?
Er bewegte sich zwischen den Kleidern hindurch und fragte sich, wo er hier gelandet war, in einer Rumpelkammer?
Einen Moment blieb er stehen und versuchte herauszufinden, was er hier überhaupt machte. Der Gedanke an die Uhrzeit bewegte sich durch honiggefüllte Gedankengänge. Fast wären sie hängengeblieben, aber dann sah er doch auf seine Armbanduhr.
"Scheisse, verloren", murmelte er, als er sie nirgends an seinem Arm entdecken konnte.
In einer Ecke fand er eine Kiste und schaute hinein.
"Voller Kasperleklamotten!"
Und stinken taten sie auch noch.
Er war müde.
"Schlafen. Gestank egal", dachte er noch.
Er kroch in die Kiste. Ihn fröstelte und er deckte sich dick mit einigen der eigentümlichen Kleidungsstücke zu.
Etwas Wichtiges fiel ihm ein und wollte noch aus seinem Unterbewusstsein in sein Grosshirn, aber jetzt wurde es auf den Gehirnwindungen endgültig zu klebrig.
Irgendwo auf dem Weg zwischen dem emotionalen und dem analytischen Denkzentrum blieb der Gedanke hängen.
Hier endet der zweite Teil der Geschichte, der wie man schon gemerkt hat, der erste Teil ist. |
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