I - Kapitel 3
25.Apr.24 .. 03:11 Uhr
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Orte, Personen

Hilfe, Technik

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Over the Hills and far away << Seite 1 >>

Die Ruhe im Dorf war schnell dahin. Alle, die noch im Dorf waren, kamen aus den Häusern und strebten Richtung Dorfplatz. Sie wurden dort schon von Sergeij und einigen anderen aus der Führungschicht erwartet. Andra stand dort mit zwei Männern, die er vorher auch schon auf den Feldern gesehen hatte. Der eine der beiden war eine blonder Hüne mit Schnauzbart und langen glatten Haaren, der andere mittelgroß, hager und mit bereits schütterem Haar. Paul war überrascht, sie dort einige Gewehre verteilen zu sehen, da er nie zuvor im Dorf Waffen bemerkt hatte. Andra redete kurz mit den beiden Männern; als sie ihn dann bemerkte, kam sie auf ihn zu.

“Unser Ausguck - du erinnerst dich doch? - hat gemeldet, daß eine größere Anzahl von Leuten aus der Stadt auf den Wald zukommt. Es scheint sich um eine bewaffnete Gruppe zu handeln, genau konnten die das von da oben aber nicht sehen. Jonas und Kado werden sich zum Waldrand begeben, um herauszufinden, was die vorhaben. Wir haben die Befürchtung, daß sie uns hier aus dem Wald rauszutreiben wollen, versucht haben sie das schon. Es ist aber auch möglich, daß sie dich wiederhaben wollen. Bisher haben die noch nicht probiert, einzeln in den Wald einzudringen, irgendwie haben die eine komische Angst vor dem Wald. Da man sich aber auf nichts verlassen kann, werde ich mich um deine Sicherheit kümmern.”

Er sah sie offenbar zweifelnd an, denn sie setzte spöttisch hinzu: “Du traust mir das wohl nicht zu, was? Na, du scheinst wirklich sehr viel vergessen zu haben. Komm jetzt, ich werde dich in einen sicheren Bereich des Waldes bringen.”

Sie marschierten in einen Teil des Waldes, in dem sie bisher noch nicht gewesen waren. Es ging etwas bergab, und je tiefer sie kamen, desto feuchter und muffiger wurde die Luft. Auch der Boden begann, weicher zu werden. Hin und wieder mußten sie sogar einer Pfütze ausweichen, dann verließen sie den Pfad und bewegten sich federnd über breite und dichte Grasflächen. Unvermittelt bogen sie nach rechts ab ins dichte Unterholz. Es ging wieder etwas bergauf, sie bewegten sich kreuz und quer durch hohe, stachelige Brombeerhecken, um schließlich auf einer kleinen Freifläche anzukommen.

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“Hier bist du sicher, denke ich. Das ist einer unserer geheimen Rückzugsplätze, so eine Art letzte Festung. Durch die Hecken kommt man nur, wenn man den Weg kennt, sonst verfängt man sich hoffnungslos.”

Am Rand der Lichtung stand eine kleine Hütte, die Schutz vor den möglicher­weise auftretenden Unbillen der Natur bieten konnte und als Schlafplatz diente. Sie traten in den Raum ein. Im hinteren Teil standen vier Betten der üblichen Bauart, ansonsten bildeten zwei Regale, ein Tisch und fünf oder sechs Stühle das Mobiliar.

“Alles klar, hier können wir bleiben”, sagte Andra, dann traten sie wieder aus der Hütte.

In der Ferne hörten sie einige Schüsse, dann war es wieder still. Kurze Zeit später brach anscheinend eine Schlacht los; minutenlang war Gewehrfeuer zu hören. Auch Paul konnte deutlich zwei Arten von Schüssen unterscheiden. “Die dumpferen Schüsse kommen aus unseren Gewehren”, erklärte Andra. Nach einer Zeit, die ihm endlos erschien, wurde das Gewehr­feuer schwächer, nur noch selten waren dumpfe Schüsse zu hören, dann hörte man nur noch die Geräusche des Waldes.

Pauls Puls beruhigte sich langsam wieder.

“Wir scheinen die Oberhand behalten zu haben.” Andra nickte. “Jetzt müßten wir doch wieder ins Dorf zurückkehren können, oder? Ich komme mir hier sowieso vor wie ein feiger Deserteur.”

“Sieh das mal nicht so, Paul. Du scheinst für die Leute aus der Stadt wichtig zu sein. Nun, ich will dein Erinnerungsloch mal ein wenig füllen: Du warst ein wichtiges Mitglied des wissenschaftlichen Teils unserer Expedition nach hier und sie halten dich entweder für einen alchimistischen Zauberer oder sie glauben, daß du ihnen wertvolle Informationen über den Stand der Wissenschaft in unserer alten Welt geben könntest. Jedenfalls wollen sie dich und wir wollen dich auch. Wir können uns nicht leisten, dich zu verlieren, weil in deiner momentan blockierten Erinnerung zuviel Wissen steckt, das wir mal brauchen werden.”

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Sie bewegte sich auf den Ausgang zu, er folgte ihr.

“Wir können den Rückweg wohl wagen.”

Wieder ging es durch das Brombeergestrüpp. Als sie wieder auf dem Waldweg waren, hörten sie ein Rascheln im Gebüsch. Plötzlich stürzten zwei dieser mittelalterlichen Stadtbewohner von der Seite auf sie zu. Paul packte die Panik, aber dann sah er aus dem Augenwinkel, was mit dem Kerl geschah, der versuchte, Andra zu packen. Sie bewegte sich nur wenig schräg links nach vorn, etwas aus der Angriffsrichtung heraus, griff nach der Hand des Angreifers und führte sie fast schon sanft in einer weichen Kreisbewegung. Er flog an ihr verbei, dann hörte man ein Geräusch wie das Reißen einiger Schnüre. Der Angreifer starrte im Fallen auf die an seinem Arm baumelnden Hand, dann stöhnte er laut auf.

Paul wurde von dem anderen Mann mit überkreuzten Armen an dem stabilen Kragen seiner Jacke gepackt. Er fühlte, wie ihm die Luft wegblieb, als der Andere zuzog. Wie automatisch ging er einen kleinen Schritt zurück, wobei er seine Arme in einer ausholenden, kreisförmigen Bewegung zwischen sich und den Angreifer brachte. Die Bewegung endete mit überkreuzten Händen vor dessen Kehlkopf, worauf sich seine Hände kurz nach vorn bewegten. Erstaunt sah er den Mann zusammensacken.

“Komm schnell, bevor die schießen”, keuchte Andra, dann liefen sie um die nächste Wegecke.

Nach einigen Minuten Hetze durch den Wald wurden sie langsamer, weil Paul die Luft wegblieb.

“Na, ich denke, daß wir sie los sind”, meinte Andra, ihr Atem ging erstaunlicherweise ziemlich ruhig. “Deinen Mann bist du wirklich elegant losgeworden, da kommt der Killer in dir durch.”

Paul grinste angestrengt.

“Witzbold.”

Sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter, wobei Paul wieder mal seinen Gedanken nachhing.

“Meinst du das wirklich ernst mit dem Killer? Habe ich schon mal jemanden getötet?”

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Andra sah ihn nachdenklich von der Seite an.

“So schlimm wars nicht, aber du hast da jemanden mal ganz schön verletzt.. Der Typ war danach nicht mehr gut auf dich zu sprechen, vorsichtig ausgedrückt. Ich bin ja keine Psychologin, aber ich hätte gedacht, daß sich sowas im Unterbewußtsein festsetzt.” Sie schüttelte den Kopf.

Paul beschlich ein dumpfes Gefühl. Er schien früher große Fehler gemacht zu haben, er konnte sich aber nicht einmal ansatzweise ein bestimmtes Ereignis erinnern.

“Du scheinst aber auch ganz geübt zu sein im Abwehren von Angriffen. Hat der sich die Hand gebrochen?”

Andra grinste leise und etwas schadenfroh.

“Gebrochen nicht, aber einige Sehnen sind wohl im Eimer. Und die Sehnen hat er sich wirklich selbst zerrissen, ich habe nur etwas nachgeholfen. Deiner wird auch eine Zeitlang etwas schwer Luft kriegen, aber die werden schon wieder auf die Füße kommen.” Ernster werdend fügte sie hinzu: “Als Sicherheits­chefin bin ich natürlich bewandert darin, wie man einen Angriff stoppt.”

“Und ich habe mich immer über deinen Raubkatzengang gewundert. Wie war das eigentlich bei meiner Aktion, war das Zufall oder bin ich bei dir in die Lehre gegangen?”

“Erinnerst du dich daran?”

Paul schüttelte den Kopf.

“Dann war es gut geraten. Wir haben da einen offensiven und einen defensiven Teil bei dieser Art Ausbildung. Ich beherrsche notwendigerweise beide Teile; du bist witzigerweise im offensiven Teil eine Pfeife, aber im defensiven Teil gefährlich und undiszipliniert.”

“Wieso witzigerweise?”

“Ich weiß nicht warum, aber wenn man dich angreift, bist du in deinen Abwehrtechniken, nun sagen wir einmal undiszipliniert. Eigentlich sind Leute mit einem solchen Aggressionspotential in den Offensivtechniken auch gut, du aber nicht. Ich kann mich nicht an einen wirklich gelungenen Angriff von dir erinnern, aber dafür, wie jemand nach einem Angriff auf dich einige Wochen mit dem Training aussetzen musste.”

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Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Mit Killer konnte das kaum etwas zu tun haben, eher mit einer Überreaktion aus Angst.

“Wir reden ohnehin über jemanden, den ich nicht kenne. Ich höre dir zu, als ob du über Prinz Eisenherz oder Dietrich von Bern erzählst, alte, längst ver­gessene Zeiten.” Er zögerte kurz, dann fuhr er fort. “Bin ich eigentlich sonst so wie immer oder habe ich mich ganz verändert?”

“Das meiste ist wie vorher, aber du wirkst verschlossener. Früher warst du mal ein Mensch mit einem kindlichen Gemüt und der König des schnellen und flachen Witzes. Dein Motto war immer: lieber einen guten Freund verlieren, als eine Pointe auslassen. Heute wirkst du regelrecht vernünftig und ernst. Da geht einem schon mal was an Unterhaltung ab.”

Sie näherten sich nun wieder dem Dorf und legten den letzten Kilometer nicht über den Weg, sondern durchs Unterholz zurück. Wieder einmal fielen ihm die irritierenden Unterschiede zwischen den Holunderbeeren hier in der Realität und denen in seiner Erinnerungen auf: hier fehlte die typische Rindenstruktur des Holunders; immerhin, der Duft der Blüten, der war geblieben. Als sie bis auf hundert Meter ans Dorf herangekommen waren, hörten sie bereits die Sieges­gesänge; Sergeij war als Vorsänger tätig.

Sie traten auf den Dorfplatz und waren sofort von Leuten umringt, die entweder erzählten, wie glorreich der Kampf verlaufen war, welche Verluste zu beklagen waren oder die ihnen sagten, wie gut sie es gehabt hätten in ihrem Waldversteck.

Diese Stimmen verstummten schnell, als Andra über den Vorfall auf dem Rückweg berichtete.

Kado, der blonde Hüne, beglückwünschte die beiden zu ihrer Reaktion und nickte Paul anerkennend zu, dann wurde er sehr schnell ernst.

“Diese Verrückten trauen sich in kleinen Gruppen in den Wald! Große Scheiße, Leute. Das hier war mal ein sicherer Platz, Freunde, es war einmal. Ich denke, wir können die Sachen packen.”

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Andra nickte und fügte hinzu: “Wir müssen damit rechnen, daß sich die Burschen jetzt auch in kleinen Gruppen, womöglich sogar nachts, zu uns trauen. Da nutzt kein Ausguck etwas. Irgendwas oder irgendwer hat denen offenbar die panische Angst vor dem Alleinsein im Wald genommen. Wenn wir hierbleiben, wachen wir eines morgens auf und atmen durch ein Loch im Hals.”

Während Andras Erklärung bemerkte Paul, daß einige Leute ihn verstohlen anblickten. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß ihm eine Reihe von Dorf­bewohnern mißtrauisch, wenn nicht sogar feindselig gesonnen waren. Besonders Sergeijs junge Leute mit ihrem Getuschel machten ihm Sorgen.

Die Führergilde zog sich zu Beratungen zurück und das Fest fand ein unvermitteltes Ende. Nach kurzer Zeit kam Mona zu ihm und sie gingen nach Hause. Sie wollte genau wissen, wie dieser Angriff im Wald abgelaufen war und zeigte sich erleichtert, daß alles so gut abgelaufen war. Er beendete seine Erzählung mit einer Frage.

“Mona, mein Schatz, ich hatte das Gefühl, daß ich den Dorfplatz mit den Füßen voran verlassen hätte, wenn Blicke töten könnten. Wieso?”

“Na, da verwechselst du wohl Respekt und Bewunderung mit Abneigung, Paul”, versuchte sie ihn zu beruhigen.

Er ließ nicht locker.

“Mir ist vor allem Jonas aufgefallen. Das war Haß, keine Bewunderung. Habe ich hier einigen Leuten in meinem bisherigen Leben auf die Füße getreten?”

“Nicht mehr als üblich, es gab Mißstimmungen, die in einer Gruppe notwen­digerweise auftreten müssen. Nichts besonderes, wirklich. Vielleicht denken nur einige, daß du die Leute aus der Stadt hierhergebracht hast, nicht mit Absicht natürlich. Zwei unserer Leute sind bei dem Angriff umge­kommen, vielleicht hatte Jonas engere Beziehungen zu Maja, das ist eine der beiden Toten. Jonas hat sich um alle Frauen im Dorf - nun, sagen wir mal, sehr bemüht. Mach dir keine Gedanken, komm, wir machen uns einen gemüt­lichen Abend.”

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Paul wurde bei diesem Gedanken wohler. Während des Abendessens genoß er die Ruhe. Er plauderte mit Mona über Dinge wie den Verlauf des Wachstums der Dinkel- und Haferkulturen, über die Versuche der Züchtung einer Variante der Apfelsorte Braeburn und ähnlich mitreißende Themen. Es war wohl das beste, was Mona tun konnte, um ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken. Als Mona etwas am Regal zwischen den Büchern suchte, ließ er seinen Blick über ihren Körper schweifen. Sie hatte nur ein T-Shirt und Jeans an. Ihr Hintern war breit und vielleicht etwas zu flach, sie war groß und kräftig, eigentlich keine Schönheit. Sie drehte sich um und lächelte ihn an, während sie ein Buch über Genetik hochhielt. Das mußte es sein, was er an dieser Frau mochte, dieses Lächeln mit den Grübchen in den Wangen. Ihn interessierte jetzt die Genetik nicht mehr im theoretischen, sondern eher im praktischen Sinn und er täuschte Müdigkeit vor. Das verschmitzte Grinsen von Mona trieb seinen Blutdruck endgültig in die für einen entspannenden Abend nötigen Höhen.

Sie waren wohl gerade erst eingeschlafen, als an der Tür geklopft wurde, dann hörte man jemanden hereinpoltern. Nach kurzem Klopfen wurde die Tür aufgestoßen, dann stand Kado in der Tür. Mona brummte verschlafen, wälzte sich aus dem Bett und zog sich wieder Jeans und T-Shirt an, während Kado im Wohnzimmer wartete. Sie redeten leise und heftig auf einander ein. Paul verstand nur Wortfetzen. "Warum sagen wir es ihm nicht" ..."Kann man ihm trauen?" ... "Wie wird er reagieren?"

Paul erhonb sich ebenfalls vom Nachtlager und folgte den beiden.

"Wem kann man nicht trauen?"

Die beiden schauten ruckartig hoch.

“Es dreht sich um Sergeij. Wir benötigen Mona bei der Vorstandssitzung. Paul, entschuldige, aber es ist dringend.”

Sie gab ihm einen Kuß, wobei Paul die Tatsache pries, daß sie früh zu Bett gegangen waren. Wenn Kado früher gekommen wäre, hätte er wirklich gestört.

Am nächsten Morgen lag Mona wieder neben ihm im Bett und schlief den Schlaf der Gerechten. Nachdem er sich eine Zeit­lang an ihrem Anblick erfreut hatte, stand er auf, um das Frühstück vorzubereiten. Er warf einige Stücke Holz in den kleinen Ofen und pumpte Wasser in den Kessel.

Messer, Holzbretter, Teebecher und Brot kamen auf den Tisch, ebenso die Flasche mit dem obligatorischen Apfelsaft, Butter, Käse und Marmelade. In der Küche hörte er das Wasser kochen und goß es über die Teeblätter. Der Duft erinnerte ihn an die beiden Männer in der Stadt, die ihn vor den Soldaten gerettet hatten.

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Diese Erinnerung brachte ihn wieder zum Nachdenken. Wieso kamen plötz­lich die Soldaten hier in den Wald? Hatten die beiden Alten den Soldaten geraten, ihm heimlich zu folgen, um Hinweise auf den genauen Aufent­haltsort ihrer Gruppe zu bekommen? Schöne Hilfe, das! Dann kam ihm eine Beobach­tung in den Sinn, über die er sich bisher noch nicht den Kopf zerbrochen hatte. Die beiden Kerle, die ihm und Andra gestern an die Gurgel wollten, hatten eigenartig ausgesehen, nicht nur wegen ihrer Uniform. Ihre Gesichter hatte er zwar nur kurz und in Panik gesehen, aber die Haut war fast wie die einer Eidechse gewesen, schuppig und relativ hart. Zumindest bei “seinem” Kerl war er einigermaßen sicher, daß es so war, Andras hatte er nicht so genau gesehen. Irgendetwas klingelte tief in seinem Unterbewußtsein, aber es war gedämpft und kraftlos. Bevor er dieser Irritation weiter nachgehen konnte, kam Mona in die Küche.

Sie sah besorgt aus und berichtete ihm während des Früh­stücks über die Sitzung in der gestrigen Nacht. Man hatte überlegt, wohin man den Sitz der Gruppe verlegen könnte, um der Gefahr durch die Städter aus dem Wege zu gehen. Sie sollte als Expertin für Biologie die Möglichkeit einer neuen Lebensgrundlage an anderen Stellen in erreichbarer Nähe angeben.

“Es sieht düster aus, Paul. Wir haben hier ein zwar sehr einfaches, aber recht gesichertes Überlebenssystem installiert. Es war eine verdammt schwere Arbeit, das hier zu schaffen. Nochmal dasselbe, nein. Wir sind jetzt auch weniger als damals. Aus welchem Grund auch immer, es klappt nicht mit Kindern; noch nicht eine einzige von uns ist schwanger geworden. Wahr­scheinlich haben wir uns alle vor der Abreise so gründlich vergiftet, dass da nichts mehr klappt. Wir müssen uns von dieser alten techno­logischen Gesell­schaft lösen, auch gedanklich. Wir müssen wieder mehr auf unsere Instinkte hören, sie fühlen, dann wird auch das wieder in Ordnung kommen.”

Die Rede klang gut, aber er sträubte sich trotzdem innerlich dagegen - wohl nur ein Reflex seiner bösen, naturwissen­schaftlich geprägten Vergangen­heit. Eigentlich sollte er sich ja an der Katastrophe, die sich in der alten Welt ereignet hatte, mitschuldig fühlen, aber warum auch immer, das Gefühl kam nicht. Er erinnerte sich an seine Kindheit, als ihm seine Eltern Vorwürfe gemacht hatten wegen Dingen, deren Fehlerhaftigkeit ihm weder damals noch später eingeleuchtet hatten. Deren Sexualmoral, gute Güte!

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Sie kamen nicht dazu, weiter zu diskutieren. Die Tür ging auf und Jonas kam herein.

“Paul, komm. Wir wollen dich zuerst an einen sicheren Ort bringen.” Er schaute mit gerunzelter Stirn vorwurfsvoll zu Mona, als er Pauls verwirrten Blick bemerkte. “Hat dir Mona noch nichts erzählt?”

“Ich bin noch nicht so weit gekommen, Jonas.” Dann wandte sie sich wieder an Paul. “Wir glauben, daß die hinter dir her sind. Sie dürfen sich aber dein Wissen auf keinen Fall aneignen, sonst können wir nicht nur unser Dorf aufgeben. Diese Idioten jagen uns offenbar mit einem pathologischen Haß, sie sind nur zu primitiv bewaffnet und kennen unsere Verteidigungsmöglichkeiten nicht. Andra hat dir ja schon erzählt von deiner Funktion hier in unserer Gruppe. Es darf nicht passieren, daß sie dich nochmal in die Hand bekommen. Wir haben schon früher einen kleinen Ausweichplatz tiefer im Wald vorbereitet. Jonas führt dich jetzt schon mal da hin, wir müssen hier den geordneten Rückzug vorbereiten.”

“Erschießt mich doch einfach und werft mich denen vor”, schlug Paul vor. “Den Ärger habt ihr dann vom Hals. Ich scheine doch nur eine Belastung für euch zu sein.”

Die beiden wechselten betroffene Blicke. Mona wurde etwas rot, dann sagte sie: “Wir brauchen dein Wissen auch noch, mein Lieber.” Nur sein Wissen? Er war enttäuscht.

Sie packten ein paar Kleidungsstücke und etwas Nahrung in einen Rucksack, dann verabschiedete er sich von Mona. Sie umarmte ihn heftig, dann ging er mit Jonas davon. Als er sich am Ende des Dorfes noch einmal umdrehte, stand sie noch immer in der Tür der kleinen Hütte und sah ihnen hinterher.

Zu seinem Erstaunen nahmen sie den Weg in Richtung Wald­rand. Auf seine Frage erläuterte Jonas, daß sie eigentlich tiefer in den Wald gehen wollten, der direkte Weg aber durch ein Sumpfgebiet führte. Ansonsten war Jonas ein sehr wortkarger Führer.

Die Bäume standen jetzt weiter auseinander und mehr Sonnen­strahlen drangen bis zum Waldboden durch. Sie bogen nach rechts ab und folgten etwa eine halbe Stunde einem schmalen Pfad, der wie ein Beobachtungs­gang in einiger Entfernung am Waldrand entlanglief.

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Paul genoß die Luft. Wegen der besseren Lichtverhältnisse war der Waldboden mit blühenden, intensiv duftenden Pflanzen übersät. Er stellte fest, daß er ein schon mystisches Verhältnis zum Wald hatte, der Geborgenheit versprach, Schutz vor den Launen der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten, diese Wanderung machte ihm richtig Freude.

Als er aber über den Abschied von Mona nachdachte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Wieso hatten die sich beiden so eigenartig angesehen, als er den Vorschlag gemacht hatte, ihn zu erschießen? Wieso wurde Mona mitten in der Nacht zu einer Besprechung geholt, in der es um den Umzug der Dorfgemein­schaft ging - sie war Biologin! Wieso gingen sie ständig am Waldrand entlang, wenn es doch eigentlich tiefer in den Wald gehen sollte? Wieso begleitete ihn ausgerechnet Jonas? Wieso hatte ihm Mona ausweichend über sein Verhältnis zu Jonas geantwortet?

Irgendetwas passte an der ganzen Geschichte nicht zusam­men, er wußte aber nicht genau, was. Langsam wurde ihm mulmig, er hatte das Gefühl, daß eine große Hand nach seinem Nacken greifen wolte. Andererseits, wenn man in ihm wirklich eine Gefahr sah und ihn beseitigen wollte, würde man dies elegant mit einem wohlgezielten Schuß machen und sein Ableben nicht so entsetzlich umständlich und ohne Publikum inszenieren.

Verdammt, wieso erinnerte er sich an nichts aus der Vergan­gen­heit, jedenfalls an nichts wirklich wichtiges?

Sie liefen auf eine kleine Anhöhe zu, die in den Wald hineinragte. Der Weg verlief dort kurzzeitig außerhalb des Waldes, da die Bäume wie üblich nur im Tal wuchsen.

Er drehte sich nach hinten, um Jonas zu fragen, ob sie dem Weg weiter folgen sollten.

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Zu seinem Erstaunen sah er in dessen rechter Hand ein Messer, in der linken einen Schlagring mit einem kurzen Dorn und auf seinem Gesicht ein bös­artiges Grinsen.

“So, mein Freund, Schluß mit der albernen Vorstellung, wir sind am Ende deines Weges angekommen. Die Leute aus der Stadt werden dich hier finden und dann Ruhe geben.”

Paul verkrampfte sich der Magen.

Dann erinnerte er sich an die Szenen in Kriminalromanen, in denen der Held in auswegloser Lage den Mörder in ein Gespräch über den Tathergang verwickelte und auch dem langsamsten Leser der Plot noch einmal genau erklärt wurde. Am Ende schlug der Held zu und rettete sich und die schöne Blondine vor dem sicheren Tod. Nun, einen Versuch war es wert.

“Wieso sollten die Ruhe geben?”

“Laber nicht rum, du Blödmann.”

Das hatte ja prima geklappt.

Doch plötzlich wurde er ruhiger; er erinnerte sich an das, was Andra über seine Defensivfähigkeiten gesagt hatte. Jonas kam jetzt langsam auf ihn zu, das Messer locker in der rechten Hand, die linke seitlich halbhoch vom Körper. Dieses Schwein, dachte Paul, und er spürte in sich zum ersten Mal so etwas wie Hass. Er merkte, wie sein bewußtes Denken langsam aussetzte. Vor seinem inneren Auge schoß Jonas auf ihn zu, stach mit dem Messer Richtung Gesicht, um ihn abzulenken, und schlug dann mit dem Schlagring in der linken Hand gegen seine Schläfe, um ihn zu töten. Offen in der Mitte, dachte Paul noch, dann griff Jonas wirklich an.

Den Messerangriff mit der linken Hand etwas aus der Richtung wischend, bewegte er sich nach links vorn. Seine rechte Hand hatte er zu einer Art Faust geformt, der Handrücken zeigte nach unten, der Daumen nach vorn, gestützt durch die anderen Finger. Mit leicht abgewinkel­tem Arm schoss er die Faust in gerader Bewegung aus der Hüfte gegen Jonas Kehle. Er merkte noch, wie die Daumen­spitze ihr Ziel fand, aber zu spät, um den Schlag mit dem Schlagring ganz zu verhindern.

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Er sackte zusammen und rollte sich instinktiv rückwärts ab. Er richtete sich so schnell es ihm möglich war wieder auf und versuchte, den Schmerz zu ignorieren und einen klaren Kopf zurückzugewinnen, um den nächsten Angriff abzuwehren.

Ein Blick auf seinen Gegner zeigte ihm, daß dessen Angriff anscheinend sein letzter gewesen war. Jonas lag auf dem Rücken und besah sich mit leeren Augen den blauen Himmel. Paul vergewisserte sich vorsichtig, daß er wirklich tot war und fragte sich, wie es ihm gelungen war, diesen Angriff abzuwehren. Es war wohl einfach ein Problem des Timings gewesen, der tödliche Schlag von Jonas war einfach zu spät gekommen, da er zuerst die alberne Finte mit dem Messer versuchen mußte. Seine Verteidigung und der Gegenangriff war hingegen nur eine einzige kombinierte Bewegung gewesen, und die war trotz seines Trainingsrückstandes zu schnell für seinen Gegner gewesen.

“Pech, mein Freund.”

Schmerzen an seinem linken Arm und am Kopf zeigten ihm, daß seine Abwehr weniger erfolgreich gewesen war, als er gehofft hatte. Eine tiefe Schnitt­wunde zierte seinen linken Oberarm, glücklicherweise war aber offenbar keine wichtige Ader verletzt.

An der rechten Seite spürte er Blut den Hals herablaufen. Als er vorsichtig an seinen Kopf faßte, wurde ihm ein wenig übel. Seine Ohrmuschel war anscheinend halb abgerissen, eine Rißwunde hatte er wohl auch. Der Schlag­ring hatte seine Wirkung getan, wenn auch nur sehr unvollständig.

Als sein Adrenalinspiegel sich langsam wieder normalisierte, spürte er die Schmerzen stärker, ihm wurde schwindelig. Seine Hände und Knie begannen zu zittern. Er schleppte sich ins Unterholz, um ein wenig auszuruhen. Hinter einem großen und dichten Busch legte er sich ins Moos. Es war zu befürchten, daß einige der Dörfler kommen würden, um Jonas´ “Erfolg” zu begutachten und dann sein Werk zu vollenden.

Dann verließ ihn das Bewußtsein.

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Er erwachte davon, wie sich jemand an seinem verletzten Arm zu schaffen machte. Als er wieder etwas erkennen konnte, kniete Andra neben ihm und verband ihm mit Streifen aus seinem Unterhemd den Arm.

“Bleib ruhig”, sagte sie, als sie bemerkte, daß er wieder zu sich kam.

Dann verband sie ihm mit dem Rest seines Hemdes behelfsmäßig seinen Kopf.

“Wa loll as?” Paul versuchte klarer zu sprechen. “Waschollas?” Neuer Versuch. “Wasch scholl sass?”

Andra machte einen fahrigen Eindruck, aber sie hatte ihn verstanden.

“Schon gut, Paul. Ich muß mich kurz fassen und du mußt hier gleich verschwinden. Also erstens: Die Führung hat beschlossen, dich zu töten, aus mehreren Gründen, vor allem aber, um vor den Städtern Ruhe zu haben. Jonas sollte das machen, er hat sich sogar um diesen Auftrag gerissen, aber Gott erhalte dir in bestimmten Situationen deinen Instinkt. Zweitens: Es wären wirklich nicht alle aus der Gemein­schaft damit einverstanden gewesen, deshalb mußte das heimlich gesche­hen, kein Schuß, keine Zuschauer. Drittens: Du mußt zurück in die Stadt, versuch, diese beiden Männer wiederzu­finden, bei denen bist du relativ sicher. So, trink das hier, es nimmt den Schmerz, ohne zu betäuben.”

Das Zeug aus einer kleinen braunen Flasche schmeckte bitter, brachte ihn aber fast schlagartig wieder zu vollem Bewußtsein.

“Hier, nimm den Rest mit. Zu Essen und Trinken hast du genug. Und jetzt verschwinde in Richtung Stadt, ich werde versuchen, den anderen, die gleich hier sein müssen, weiszu­machen, daß du in den Wald verschwunden bist, das ist für die auch plausibel genug.”

Sie sah ihn etwas traurig an.

“Vertrau mir, wenn du kannst. Ich habe auch für deinen Tod gestimmt, wollte dich aber retten. Ich bin zu spät gekommen, aber du hast dir ja selbst ganz gut helfen können.”

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Sie schaute unruhig nach rechts und sah in dann ernst an.

“Geh, sonst machen die mit uns beiden kurzen Prozess. Nochwas: ich werde mit einigen Leuten nachkommen, bereite die Leute in der Stadt darauf vor, sag es ihnen zumindest, und sag ihnen, daß wir in friedlicher Absicht kommen. Auf alles andere wirst du schon selbst kommen, wenn dein Gedächtnis zurückkommt. Hier ist alles Fassade, nichts ist wahr. Wir sind nicht von hier. So, jetzt geh.”

Er meinte, in der Ferne Stimmen zu hören. Er sah Andra noch einmal an, intelligent wie ein neugeborenes Kalb vermutlich, da er nichts verstand. Instinktiv vertraute er ihr aber; er lief auf die Anhöhe zu und kletterte hoch. Oben angekommen, mußte er verschnaufen. Schon hörte er die Leute aus dem Dorf herankommen und versteckte sich hinter einem Felsvorsprung.

Als die Gruppe von etwa zehn Leuten angekommen war - er konnte Sergeij, Kado und Hermfried erkennen - sah man sie mit Andra diskutieren. Paul konnte nichts verstehen, sah aber, wie sie ins Unterholz deutete. Er erkannte Kado, der offenkundig zustimmend nickte und ebenfalls in den Wald zeigte. Nachdem die Gruppe Jonas abseits des Weges mit Zweigen und Erde bedeckt hatte und einen kurzen Moment an dessen behelfsmäßigen Grab verweilt war, verschwand sie im Wald. Kado bildete die Nachhut; kurz bevor er im Wald verschwand, drehte er sich noch einmal um, blickte in seine Richtung und winkte unauffällig zu ihm herüber. Paul hatte den Eindruck, daß er ihm sogar zulächelte.

Als sie nicht mehr zu sehen und zu hören waren, setzte Paul seinen Weg fort. Seine Verwirrung war weder durch Andras Erklärungen noch durch Kados Winken in seine Richtung gewichen.

'Wir sind nicht von hier.' Na sowas, das hatte er sich doch gedacht. 'Alles Fassade.' Das war schon komischer. Und Kado? Der hatte wohl Andras List durchschaut, war aber wohl auch einer von denen, die mit seiner Hinrichtung nicht einverstanden gewesen waren.

Er stand auf und ging das letzte kurze Stück bergauf. In der Ferne sah er die Stadt auf dem Hügel liegen, ein weiter Weg lag vor ihm.

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