II - Kapitel 6
25.Apr.24 .. 00:52 Uhr
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Teil II
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Orte, Personen

Hilfe, Technik

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Sie hatten auf einfachen, aber bequemen Strohmatrazen geschlafen, alle zusammen in einem grossen Saal. Kunold hatte gemeckert, er hätte ein Recht auf eine Privatsphäre und so weiter. Paul sagte nichts mehr; er hatte gespürt, dass einige der Menschen ihn seit seinem Zusammenstoss mit Kunold und seinen Leuten feindselig ansahen.

‘Warum konntest du auch nicht ruhig sein und musstest das Grossmaul spielen?’ schimpfte er in Gedanken mit sich.

Na, das würde sich schon wieder geben, der Mensch ist vergesslich.

Zum Frühstück reichten die Gastgeber eine Art Müsli aus verschiedenen Getreidearten und Früchten, dazu gab es wohlschmeckenden schwarzen Tee. Wieder schien er der einzige der Delegation zu sein, dem diese Ähnlichkeit zur Erde auffiel. Nach dem Frühstück versuchte er sich mit Hermfried darüber zu unterhalten, aber der wies ihn nur ziemlich schlechtgelaunt zurecht. Die universelle KRAFT hatte dafür gesorgt, dass es ihnen an nichts fehlte. Meinte Hermfried. Oder Kunold.

Paul begann sich unbehaglich zu fühlen. Kunold machte offenbar Stimmung gegen ihn, wo er konnte. Es sah fast so aus, als wollte er Paul als Abbild des Bösen aufzubauen, als Erfinder der Technik, die sie ins Unglück gestürzt hatte. Er musste dringend damit anfangen, sich aus der Schusslinie zu bringen.

Er beschäftigte sich wieder damit, die Leute zu beobachten und alles, was Rückschlüsse auf die Technik zuliess, genauer zu untersuchen.

Das Geschirr war präzise gearbeitetes Steingut, schwer und hellgrau. Die Trinkgefässe waren aus kunstvoll verziertem Glas oder ebenfalls aus Steingut. Das Besteck bestand aus Messing; etwas problematisch, fand Paul, da es den Geschmack bei säurehaltigen Speisen etwas beeinträchtigen konnte. Tische und Stühle waren trotz des einfachen Bauprinzips ergonomisch gut geformt und zeugten von einer hohen handwerklichen Fertigkeit der Negser. Alles schien im typisch vorindustriellen Entwicklungsstadium, aber in der Blüte der Kunst.

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Was ihm auffiel, war der freundschaftliche Umgang der Negser untereinander. Keiner schien dem anderen in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung wirklich überlegen zu sein. Selbst Redala und Dagolesian, die ja gestern als Führungspersönlichkeiten vorgestellt wurden, beteiligten sich an so profanen Tätigkeiten wie dem Decken und Abräumen der Tische; Dagolesian verschwand sogar für eine halbe Stunde zum Kochen. Falls Negs ihre neue Heimat werden sollte, schien das kein schlechtes Schicksal für sie zu werden.

Mit gerunzelter Stirn sah er zu Kunold herüber. Wenn der die Idylle mal nicht zu sehr trübte!

Er entschloss sich, in den nächsten Tagen vorsichtig zu erkunden, wer unter den Menschen noch nicht im Kunoldschen Sinne religiös geworden war. Vielleicht würde sich auch eine zurückhaltende Kontaktaufnahme mit einigen Knn lohnen.

Obwohl, das waren schon komische Kerle. Sie waren den Menschen gegenüber zwar stets freundlich, aber auf eine derart distanzierte Art, dass sich die Kontakte zu ihnen auf die sachliche Zusammenarbeit beschränkte, obwohl sie doch mittlerweile mehr als ein halbes Jahr zusammen lebten. Sie wirkten in ihrer Arbeit ausserordentlich kompetent und souverän, exzellent organisiert und diszipliniert. Über die kleinen Spleens wie ihr übersteigertes Ehrgefühl - egal was passiert, nur nicht das Gesicht verlieren - und ihre Angst vor engen Gängen konnte man wohl hinwegsehen. Paul wurde allerdings das Gefühl nicht los, dass da auch einiges an Schau dabei war. Er war sich bis heute nicht darüber im Klaren, ob der Besuch der Negser auf der Erde wirklich geplant war. Die Argumentation, man habe mit einem Streich mehrere Fliegen, sprich Sonnensysteme, erforschen wollen, schien ihm angesichts der Toten auf Terkan nicht so ganz einleuch­tend. Vielleicht hatten sie einfach nur den Sprungpunkt im Terkansystem nicht richtig getroffen und waren im Sonnensystem statt zu Hause gelandet; zugeben würden die das nie.

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Aber Oggrd und Brzz waren zwei Knn, die relativ offen waren, deshalb hatten sie sich auch allein auf die Erde getraut; Paul hatte das damals imponiert. Dieser Respekt schien ein gegenseitiger gewesen zu sein. Irgendwann hatte Oggrd mal gefragt, wieso sie den frenden Monstern aus dem Weltraum so völlig ungeschützt auf dem Tomnahurich entgegengetreten waren; sie hatten offenbar auch einige Science-Fiction-Romane der Menschen gelesen und wohl mit mehr Angst und Vorsichtsmassmahmen gerechnet. Paul hatte grinsend mit den Schultern gezuckt, etwas von Risiko in einer so aussergewöhnlichen Situation erzählt und sie auf die Gefahr hingewiesen, in die sie selbst sich begeben hatten. Oggrd hatte daraufhin zustimmend genickt.

Er musste mal ganz unverfänglich mit den Knn sprechen und deren Vorstellungen von der Zukunft auf Terkan herausfinden. Bei seinem Feingefühl, er dachte an seinen Zusammen­stoss mit Kunold, sollte das wirklich kein Problem sein.

Sie wurden an diesem zweiten Tag in Negs ein wenig von den Bewohnern in der Stadt herumgeführt. Negs war eine Stadt wie aus einem Guss. Der Baustil war überall so einheitlich, wie sie ihn gestern erlebt hatten. Der Grundriss der Stadt wirkte wie von langer Hand geplant, alles schien an einem Tag erbaut worden zu sein. Paul beruhigte sein mulmiges Gefühl mit dem Gedanken daran, dass mittelalterliche Städte stets einheitlich wirkten, auch dann, wenn sie über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren entstanden waren.

Die Negser konnten sich daran erinnern, dass sie vor sehr langer Zeit aus der Flussoase hier oben in die Hochebene gezogen waren, als sie die logistischen Schwierigkeiten gemeistert hatten. Die Zahl der Einwohner hatte sich seitdem nicht mehr nennenswert verändert. Sie lebten in einem Gefühl der extremen Abhängigkeit von ihren natürlichen Resourcen, tausend Leute zuviel, und alles würde möglicherweise kollabieren.

Den Mittelpunkt von Negs bildete ein für hiesige Verhältnisse riesiger Platz, mehr als einhundert Meter im Durchmesser. Im Zentrum dieses Platzes war diese eigenartig geformte Vertiefung, vom Dreieck bis zum Sechseck alle geometrischen Formen ineinander. Dieses Symbol war ihm auch voher schon an den Kleidungs­stücken einiger Negser aufgefallen, es war entweder eine Art Vereinsabzeichen oder es hatte eine religiöse Bedeutung.

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Vom Platz führten einige breitere Strassen zu kleineren Plätzen, die wiederum die Zentren der Stadtsechstel bildeten - Sechstel, echt witzig. Die breiteste Strasse ging leicht bergab in Richtung auf das einzige wirklich grosse Tor von Negs zu.

Die riesigen Holzflügel standen offen, das war immer so, wie Dagolesian ihnen versicherte. In der Stadt hatten sie nie einen Ausblick auf die Umgebung gehabt, dazu standen die Häuser einfach zu dicht zusammen. Jetzt tat sich plötzlich eine weite Landschaft auf, die ihnen fast den Atem nahm. Eine breite, gewundene Strasse führte durch ein fast vegetationsfreies Felsgebiet steil hinab in die weit unterhalb liegende Ebene. Dort erstreckte sich ein Flickenteppich aus hellgrünen, dunkelgrünen, kleineren gelben und roten sowie dunkelbraunen Stücken. Kleine Dörfer und Gehöfte lockerten den Anblick zusätzlich auf.

Durch diesen Teppich aus üppiger Vegetation schlängelte sich silbern in der Sonne glänzend der Fluss, von dem ihnen die Negser schon voller Ehrfurcht erzählt hatten.

Auf der linken Seite verschwand im Nebel die Andeutung eines Waldgebietes. Weit in der Ferne sahen sie über dem Dunst der Ebene hohe Berge, deren Gipfel weiss in der Sonne leuchteten. Auf der gegenüberliegenden Seite stiegen in ein paar Kilometern Entfernung ziemlich abrupt Berge aus der Ebene, sie mochten etwas höher sein als die, auf denen die Stadt lag. Rechter Hand auf einem oberhalb liegenden Berg, der durch eine weite Schlucht von der Stadt getrennt war, befanden grosse Gebäude, deren Zweck nicht sofort klar war. Die Flügel einiger riesiger Windmühlen drehten sich langsam im Wind.

Ein leichter Wind wehte hangaufwärts und brachte die Gerüche der Ebene zu ihnen herauf. Paul sog die Luft genüsslich ein, es roch nach frischer, feuchter Erde, nach Gras, nach frisch abgeernteten Feldern. Vielleicht bildete er sich alles nur ein, weil ihn der Anblick an die Erde erinnerte.

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Dieser Anblick einer wohlorganisierten Agrarlandschaft gab ihm Zuversicht. Offenbar waren sie nicht darauf angewiesen, im Wald mühsam als Jäger und Sammler dahinzuvegetieren und langsam eine geordnete Versorgung aufzu­bauen, sie konnten sich in ein gemachtes Nest setzen.

Ein paar Meter neben ihm fing er einige Wortfetzen auf, Kunold!

" ... werden uns versorgen ... sicher keine Schwierigkeiten bereiten ... wir haben hier ein gutes Land ..." und so weiter.

Dieser Typ schien also wirklich anzunehmen, dass er hier einfach die Füsse hochlegen würde und sich von den dienstbaren Geistern aus Negs bedienen lassen würde. Wir haben hier ein gutes Land, wir!! Von der KRAFT gegeben, offensichtlich. Um Kunold herum standen einige seiner engsten Jünger und hingen an seinen Lippen; er sah Hermfried, zu seinem Unbehagen auch Kado, die ihm aufmerksam zuhörten.

Nun, trotz seines erwiesenen diplomatischen Geschicks würde sich Paul damit beeilen müssen, sich Klarheit über die Einstellung einiger seiner Mitmenschen zu verschaffen. Er bekam das Gefühl, dass Kunold eine Art militärischer Übernahme der Stadt plante. Nur, wem konnte man trauen? William hatte zu grossen Respekt vor seiner Jane, die wiederum von Kunold fasziniert war. Mona war ohnenhin Kunold verfallen, geistig jedenfalls. Kado und Andra schienen ebenfalls übergelaufen zu sein, wer also blieb? Ein Risiko wollte er schliesslich nicht eingehen, dazu war er schon zu sehr exponiert in Kunolds Augen, also ruhig, nur ruhig.

Während der Reise hatte er zwar mit einigen Leuten zusammengearbeitet, aber die Zeit war zu kurz gewesen um wirklich tiefere Freundschaften zu schliessen, er war doch meist in der Umgebung geblieben, die er von der Erde kannte, also Kado, Andra, William, Jane, dazu war Mona gekommen, vielleicht noch Hermfried. Alle von der KRAFT verseucht, wie er jetzt bitter feststellte.

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Unten auf dem Fluss segelte ein plump wirkender Kahn langsam auf die größte Ortschaft zu, wie es aussah, war das der Hafen. Das Dreieckssegel hing schlaff in den Masten, aber die träge Strömung sorgte für eine gemächliche Vorwärtsbewegung. Die Ladung war nicht zu erkennen.

Paul wies Oggrd auf das Schiff hin und fragte nach der Ladung.

"Ich frage mal nach", meinte er, nachdem er auch eine Zeitlang auf die Szenerie geblickt hatte.

Er sprach mit einem kleinen, grauhaarigen Mann mit einer Brille, einem der wenigen, die etwas schüttere Haar hatten. Man verständigte sich mit Händen und Füssen und nach einiger Zeit kam Oggrd zurück.

"Es scheint Metall zu sein, von den Bergen am Horizont. Dort wir es abgebaut, verhüttet und das Rohmaterial wird hier verarbeitet."

"Hast du herausbekommen, um welches Material es sich handelt?" fragte Paul zurück.

"Kupfer muss es wohl sein, weil er von rotem Metall sprach. Vermutlich auch Zink, die haben hier schliesslich viel Messing."

"Und wer baut das ab?"

"Da bin ich nicht schlau draus geworden. Keine Fremden jedenfalls, die gehören zu Negs. Vielleicht eine Art Straflager, ich weiss nicht. Wir haben Zeit, wir werden es erfahren."

"Man kann sicher etwas nachhelfen, an diese Information zu kommen."

Oggrd sah ihn etwas befremdet an.

"Willst du Gewalt anwenden?"

"Gewalt ist sicher nicht nötig, diese Primitiven werden auch so reden."

"Du schienst mir immer als ein Mensch, der nicht so ihn festen Bahnen denkt und redet. Und jetzt redest du schon fast wie euer Chef."

"Wie Kunold? Das gefällt dir wohl nicht!"

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Oggrd sah ihn lange und forschend an, dann schüttelte er, traurig wie es schien, den Kopf.

"Zu viele von euch denken so, Kado, Andra, wer noch, du auch?" meinte er und wollte sich abwenden.

Paul fasste ihn kurz am Arm.

"Nicht alle, mein Freund, nicht alle. Ich bin im Moment bei uns offenbar nicht so gern gesehen, vor allem von Kunold nicht. Ich wollte herausfinden, wie du über ihn denkst, deshalb habe ich wie Kunold geredet."

Oggrd sah kurz zu ihm hin.

"Wem soll man trauen?"

"Vielleicht werde ich es bald nötig haben, dass du mir traust."

Oggrd zuckte mit den Schultern, dann ging er wieder zu seinen Leuten.

Paul lobte sich in Gedanken. Offenbar war er mit seinem diplomatischen Geschick aufgelaufen und hatte Oggrd misstrauisch gegen sich gemacht. Nun ja, wenn schon einsam, dann auch richtig. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, einen der führenden Negser öffentlich zu ohrfeigen, damit die auch einen ordentlichen Eindruck von ihm bekamen und ihm eine weit entfernte Höhle zum Einsiedeln zuwiesen. Andererseits konnte es sein, dass er zum Risiko gezwungen war, weil Kunold durchdrehte.

Wie auf Bestellung bewegte sich der Mann mit zwei seiner Getreuen auf ihn zu.

"Was hattest du denn mit Oggrd zu bereden?"

Paul spielte den arglosen Kundschafter und wies Kunold auf den Kahn hin, der mittlerweile im Hafen angekommen war. Er erzählte von Oggrds Gespräch mit den Negsern und dass man versuchen sollte, genauere Informationen über den hiesigen Bergbau einzuholen.

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Kunold zog zufrieden ab und steckte mit einigen seiner Getreuen die Köpfe zusammen, worauf sich Paul fragte, was denn an der Information so wichtig gewesen sein könnte.

Es kam Bewegung in die Gruppe, man schlenderte wieder zum Stadttor hinein und begab sich wieder zur Unterkunft. Nach dem Mittagessen legten sich die Negser zu einer Siesta in den Schatten, die meisten Mitglieder der Delegation taten es ihnen gleich. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, eine flirrende Hitze lag in der Luft; auch Paul fand, dass ein kurzer Mittagsschlaf durchaus angeraten schien.

Als er wieder aufwachte, waren die meisten mit einer Gruppe Negsern wieder unterwegs auf Besichtigungstour durch die Stadtverwaltung.

Neben ihm räkelte sich Andrus Vitsut, den man auch hatte schlafen lassen.

"Du hast wohl auch einen gesegneten Schlaf, was?" begann Paul mit einer leichten Konversation.

"Das muss die gesunde Landluft sein", gab Andrus zurück. "Aber was machen wir jetzt ohne die anderen?"

Andrus Vitsut war kaum kleiner als er, dafür aber schlank, mit blonden, zerzausten Haaren über einer erhöhten Stirn. Er hatte irgendwo in Estland eine Professur für technische Prozesssteuerung gehabt, deshalb hatte Paul schon häufiger mit ihm gesprochen. Er erinnerte sich an Andrus Nummer auf russisch, als sie gestern an der Stadtmauer standen.

"Was hast du denen eigentlich erzählt?" fragte Paul.

"Oh, ich habe versucht, ihnen das Rezept für russischen Borschtsch nahezu­bringen, aber sie wolltens einfach nicht kapieren! Banausen!" schnaubte er ärgerlich, dann grinste er ihn aus seinen hellblauen Augen an. "Die kriegen das mit dem Kochen auch so ganz gut hin, wenn man den technischen Stand hier bedenkt. Keine computer­gesteuerten Herde und nichts war angebrannt!"

Der Mann schien ein größerer Meister des flachen Witzes zu sein als er selbst.

Paul sah Andrus kurz nachdenklich an. Wieso war der ihm noch nicht als möglicher Verbündeter eingefallen? Kontakte mit ihm liessen sich leicht beruflich motivieren, so dass Kunold und seinen Getreuen nichts auffallen sollte. Paul hatte ein etwas schlechtes Gewissen wegen seiner eigennützigen Denkweise, aber eine intensivere Bekanntschaft mit Andrus könnte ganz unterhaltsam werden. Seine Unterhaltung führte er jedoch unauffällig weiter.

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"Irgendetwas Sinnvolles muss doch zu tun sein."

"Wir können mal schauen, wie die hier ihre gesamte Versorgung steuern, das scheint ja hervorragend organisiert zu sein. Komm, wir gehen mal in die Küche."

Auf ihrem Weg kamen sie an Brzz vorbei, der sich auch langsam den Schlaf aus den Augen rieb und sich ihnen anschloss.

In der Küche standen drei Negser, ein Mann und zwei Frauen. Der Mann war einer der wenigen Negser, der ein deutlich sichtbares Übergewicht hatte. Er war etwas kleiner als Paul, etwa 1,80 gross, ausgesprochen breit und trotz des weiten Gewandes sah man einen Bauch. Sein Gesicht wirkte derb, aber er strahlte die typische negser Gelassenheit und Ruhe aus. Die beiden Frauen hatten dasselbe Alter wie der Mann, knapp vierzig vielleicht. Die eine Frau war klein und dunkelhaarig, die andere gross und schlank mit braunen Haaren. Paul und die anderen verneigten sich kurz, wie sie es bei den Negsern abge­schaut hatten, und die drei Negser antworteten auf dieselbe Art. Paul beglück­wünschte sich dazu, dass Brzz sie begleitete, denn die Knn waren wesent­lich sprach­begabter als die Menschen. Brzz fragte, mit viel Gestik, aber auch schon mit Worten, danach, wie sie ihre Vorräte lagerten und transportierten, wie sie ihre Wasserversorgung sicherstellten, was sie mit den Abfällen und dem Abwasser machten, welche Tiere sie hielten.

Eine muntere Unterhaltung begann, bei der wie durch ein Wunder trotz intensiven Gebrauchs der Arme nichts zu Bruch ging. Brzz ergänzte, was die beiden Menschen nicht mitbekamen.

Es gab wahrhaftig zwei Wassersysteme, nicht sehr umfangreich natürlich, aber ein Brauchwassersystem für die Wäsche und die Toiletten, ein zweites mit gründlich gereinigtem Wasser für das Trinkwasser. Das Abwasser wurde gesammelt und in grossen Rieselfeldern gereinigt.

Paul schüttelte ungläubig den Kopf.

"Wie haben die das bei ihrer einfachen Technik hinbekommen? Und wozu?"

"Denen bleibt nichts anderes übrig. Die haben nur diesen Lebensraum, und der ist ziemlich begrenzt. Der blanke Überlebenswille zwingt sie zur Vernunft, sagen sie", antwortete Brzz. "Die Abfälle kompostieren sie, alles, was wieder­verwertet werden kann wird auch wiederverwertet. Die haben keine Wahl."

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Paul dachte an die Geschichte der Menschheit. Eine Vernunft in diesem Sinn gab es erst, seitdem die Technik weit genug entwickelt war. Das Märchen, dass die sogenannten primitiven Naturvölker sorgsam mit der Umwelt umgegangen seien, resultierte wohl weniger aus Einsicht als aus deren beschränkten Möglichkeiten, die Umwelt schnell und gründlich zugrundezurichten.

Die frühmittelalterlichen Hochkulturen in Mittelamerika hatten sich mehrfach dadurch ausgelöscht, dass sie ihre natürlichen Resourcen ruinierten. Auch die frühen Staaten im Mittelmeerraum hatten ein grosses Geschick entwickelt, blühende Landschaften innerhalb kurzer Zeit in eine karstige Wüste zu verwandeln - man fahre mal nach Kreta. Zu einem vernünftigen Umgang gehört auch sowas wie ein Verständnis, und das fehlte den Mayas, Tolmeken und wer da sonst noch so gelebt hatte. Die schlimmste Zeit für die Umwelt war aber trotzdem die der aufkommenden Industrialisierung gewesen, Ausbeutung der Natur ohne Rücksicht und Einsicht. Und hier? Vernunft in einer vorindustriellen Kultur! Schon erstaunlich; das würde sicher ein interessanter Gedankenaustausch, wenn die Kommunikation mal funktionieren würde.

Ein Kind, vielleicht fünf Jahre alt, wuselte neugierig um sie herum. Der Mann fing es, nahm es in den Arm und drückte es lachend an sich. Dann sprach er wieder ein paar Worte mit Brzz.

"Er will uns die Vorratskammern zeigen", übersetzte Brzz. "Ich frage mich, wo die sein könnten, ich habe bisher nur Wohnhäuser gesehen."

Sie gingen über den Hof auf die Strasse, zum nächsten kleinen Platz und dort durch eines der grossen Holztore in einen Innenhof. Ihr Begleiter, er nannte sich Roguli oder so ähnlich, begrüsste einen der Leute dort und führte sie dann zu einer Treppe, die weit nach unten ins Dunkel führte. Paul merkte, wie Brzz die ohnehin kaum vorhandene Farbe aus dem Gesicht wich und wandte sich zu ihm.

"Brzz, kannst Du uns einen Gefallen tun und den anderen sagen, wo wir sind? Die machen sich sonst Sorgen und suchen nach uns."

Brzz sah ihn halb unglücklich - er verlor sein Gesicht! - und halb dankbar - aber eben nicht ganz - an, dann entfernte er sich, nachdem er mit Roguli gesprochen hatte.

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Dieser machte eine kleine Petroleumlampe an, dann ging er voraus.

Es ging sicher zehn Meter tief ziemlich steil nach unten, dann durch einen langen dunklen engen und leicht abfallende Gang; Brzz hätte sicher einen Herzinfarkt erlitten. Ständig wehte ein leichter Wind, aber schliesslich ging es durch eine Tür in einen erstaunlich grossen und hellen Raum, fast eine Halle mit pyramidenförmiger Decke. Das Licht fiel durch einen weiß getünchten Schacht ein, der mehr als zehn Meter hoch nach oben führte.

Der Raum war mit Regalen vollgestellt, die wiederum gefüllt waren mit Säcken, Kisten und Körben.

Roguli zeigte ihnen Hülsenfrüchte, Reis, Getreide und, Paul wollte seinen Augen kaum trauen, Nudeln. Andrus sah seine verwunderten Blicke.

"Na ja, hält ewig, das Zeug. Für eine Bevorratung ideal!"

In einer anderen Ecke hingen einige Schinken, Schweine gab es auch, wie er schon erfahren hatte. Paul meinte, sogar Käse auf einigen Regalen zu sehen.

Hier unten war es kühl und trocken, die Lüftung funktionierte offenbar hervor­ragend.

Roguli führte sie in einen weiteren, wesentlich kleineren Raum. Dieser war mit grossen Krügen gefüllt, Saft vielleicht. Oder Wein?! Paul schöpfte Hoffnung für ein schönes, beschauliches Leben in Negs.

Sie gingen weiter, endlos, wie es Paul erschien. Ein weniger feiner Duft erfüllte langsam den Gang. Dann kammen sie in einen Raum, der die Quelle des Duftes zu sein schien. Roguli hob einen schweren Holzdeckel hoch.

"Puh", entfuhr es Paul.

Roguli grinste ihn etwas schadenfroh an, zeigte nach oben und markierte einen wäschewaschenden, dann einen offensichtlich stoffwechselnden Menschen. Hier also war die Fäkalienabfuhr!

Das Abwasser lief durch einen Gang, der zwei Meter hoch und einen knappen Meter breit war. Das war gross genug, um im Notfall auch mal Wartungsarbeiten durchzuführen, allerdings fragte er sich, wer das machen musste.

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Aber fortschrittlich wie in einer modernen Grossstadt, das System, das musste man sagen. Eine Stadt unter der Stadt! Paul sah sich die Wände an. Der Sandstein war ziemlich weich, aber es musste trotzdem eine endlose Arbeit gewesen sein, dieses System für die ganze Stadt zu bauen. Welch eine Ingenieurleistung!

"Die Römer hatten ähnliches", meinte Andrus, der Pauls Staunen bemerkte. "Aber es überrascht mich, dass die das in einer solch abgeschlossenen Kultur mit dieser einfachen Technik hingekriegt und organisiert haben. Hier ist alles so wohlorganisiert, und das bei den geringen Humanresourcen! Hier wohnt kaum einer, wer macht das alles, wer hat sich das alles ausgedacht? Technisch mögen die ja spätes Mittelalter sein, aber die Organisation ist modern wie unsere."

Wenige Minuten später standen sie wieder am Tageslicht und wurden schon von Brzz empfangen.

"Die anderen warten schon auf euch, wir wollen zurück."

Sie verabschiedeten sich freundlich von ihrem negser Begleiter, dann marschierten sie durch die jetzt etwas belebteren Gassen zu dem Tor, durch das sie in die Stadt gekommen waren.

Kado wartete dort auf sie.

"Ihr Schlafmützen, habt ihr so lange gepennt?"

Andrus gab einen von ihrem Ausflug in die Unterwelt von Negs, der Kado mehrfach zu einem erstaunten Kopf­schütteln veranlasste.

"Man wundert sich über diese Leute, diese Organisation!", meinte er nur erstaunt.

Sie eilten hinter den anderen her, die allerdings noch nicht sehr weit gekommen waren.

Die Negser hatten angeboten, ein wenig zusammen­zurücken, damit die Knn und die Menschen nach und nach vom Wald in die Stadt umziehen könnten.

Die nächsten Tage waren sie also eifrig damit beschäftigt, ihren Umzug vorzubereiten. Das hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass Paul etwas aus der Aufmerksamkeit des Allumfassenden Kunold geriet.

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In Negs gab es einen Häuserblock, der nur noch von einer kleinen Familie bewohnt war, er würde Platz für vielleicht hundert­fünfzig oder zweihundert Personen bieten. Ein Teil der Leute war also damit beschäftigt, den kleinen Häuserblock zu renovieren, den ehemaligen Bewohnern beim Umzug zu helfen und die Häuser auf Erweiterungsmöglichkeiten hin zu untersuchen.

Ein weiterer Teil sah sich die Anbaugebiete am Fluss an, um Möglichkeiten für Neulandgewinnung auszuloten. Der letzte Teil der Gruppe trug die Habseligkeiten im Wald zusammen, auch eine letzte Expedition zu ihrer Rettungskapsel in der Wüste wurde organisiert, um eventuell noch brauchbares Material zu bergen.

Zwei Wochen später war es dann soweit: fast dreihundert Knn und Menschen zogen nach Negs, knappe hundert zogen an den Fluss und die restlichen hundert mussten zunächst im Wald bleiben. Die Restmannschaft im Wald bestand nur aus Menschen. Die Knn zogen es nach einigen ernsthaften Erkrankungen des Atmungssystems vor, in dem ihnen genehmeren trockenen Wüstenklima in der Stadt zu wohnen.

Die Gruppen im Wald und am Fluss sollten mit Hochdruck daran arbeiten, zusätzliche Anbaugebiete für Nahrungsmittel zu finden und vorzubereiten, während die Gruppe in der Stadt die Kommunikation mit den Negsern vorantreiben sollten. Ausserdem suchten sie nach Möglichkeiten, sich in den Produktionsprozessen der negser Industrie umzusehen und dort nach Arbeits­möglichkeiten zu suchen.

Paul war im Wald geblieben und erforschte mit William und Jane die Umgebung ihres kleinen Dorfes.

Viel besonderes war eigentlich nicht zu erkennen, ein Wald eben. Die Bäume ähnelten stark denen auf der Erde und wuchsen auf ähnlichen Standorten. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto feuchter wurde der Boden, wohl weil das Terrain fast unmerklich abfiel.

Irgendwo tief im Wald fiel Paul eine Stelle auf, gut einhundert Meter im Quadrat, auf der völlig unmotiviert nur kleiner Sträucher wuchsen, während ringsum die Weiden, Buchen und Erlen 20, 30 Meter hoch wuchsen. Seinen Begleitern fiel das offenbar nicht auf, aber er versuchte sich die Stelle zu merken und wollte später noch einmal genauer nachsehen, allein.

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Die Wochen gingen ins Land, im Wald wurden einige weitere Lichtungen gerodet. In der Stadt wurde weiter renoviert und ausgebaut und am Fluss kam man zu der Überzeugung, dass es nicht sehr viele Möglichkeiten gab, die Anbaufläche zu erweitern. Den Negsern wurden einige ihrer Tiere abge­schwätzt, mit denen diese Gruppe dann zum Wald kam und dort mitarbeitete.

Die Rodungen machten Fortschritte, die gefällten Bäume wurden zum Bau neuer Hütten verwendet, Stallungen für die Riesenkühe, die Schweine und das Federvieh wurde angelegt und auf den frischen Feldern konnte dank des ständig warmen Klimas Getreide gesät, Kartoffeln und Gemüse gesetzt werden.

Mona war natürlich stets im Einsatz, um ihr Fachwissen unters Volk zu bringen, aber des nachts kamen sie trotz ihrer Erschöpfung dazu, sich gegenseitig aufzurichten und Mut zuzusprechen.

Alle gewöhnten sich an den immer gleichen Tagesrhythmus, der aus Schlafen, Arbeit und Essen bestand. Die Kontakte nach Negs waren relativ beschränkt, täglich wurde einmal ein Bote hin und her geschickt, gelegentlich blieben einige Leute aus dem Wald auch länger in der Stadt.

Paul war auch drei oder viermal für zwei Tage in der Stadt, um etwas mehr über die Technologie der Negser zu erfahren. Meist waren Andrus und William dabei. Die Verständigung machte schnelle Fortschritte, vor allem William war in Bezug auf Linguistik nicht nur Theoretiker.

In Negs hatten sie es meist mit Roguli zu tun, der ihnen mit seiner ruhigen, freundlichen Art regelrecht ans Herz wuchs. Oft plauderten Sie abends fröhlich mit ihm, seiner Frau Eld und seinen zwei Kindern beim gemeinsamen Essen.

Immer wieder faszinierte die Menschen die perfekte Organi­sation der lebensnotwendigen Dinge wie Landwirtschaft, Wasser, Entsorgung.

"Wie die gute alte Zeit auf der Erde, die es in Wirklichkeit nie gab, von der aber immer wieder ein paar Phantasten schwafeln", sagte William irgendwann einmal grinsend.

Einmal gesellte sich auch Herg zu ihnen, ein kleiner, freundlicher Mann, der ihnen ein paar Dinge zur Verwaltung von Negs erzählte. Bei der Staatsform schien es sich um eine Technokratie zu handeln, ob sie von der Bevölkerung geduldet oder gewollt und kontrolliert wurde, das konnten sie nicht so recht herausfinden. Auch über die Konfliktlösungsstrategien in Negs schwiegen sich die Bewohner aus.

Im Dorf gingen derweil die Monate friedlich ins Land. Paul hatte Andeutungen einer großen technischen Entdeckung gemacht, die als Gerücht Kunold schon erreicht hatte, und seine Angst, irgendwann einmal plötzlich zu verschwinden wie Pablo Morentes, war fast vergessen.

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Doch eines schönen Freitag morgens, sie hatten gerade das Frühstück beendet, wurde es unruhig, Rufe ertönten vom Waldrand, dann kam eine ganze Gruppe Menschen, Paul erkannte Kunold, Hermfried und Jonas. Sie wirkten gehetzt, aufgeregt, einige schienen verletzt zu sein.

Schnell hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet.

"Wir sind aus Negs vertrieben worden", fing Kunold an.

Wild durcheinander fragten alle "Wieso?" – "Von wem?" – "Was ist passiert?"

Kunold brachte die Leute mit einer weiten Geste zum Schweigen.

"Sie haben sich die Häuser renovieren lassen, dann haben sie einen Vorwand gefunden, uns rauszuwerfen. So ist die Gastfreundschaft von Negs. Aber wir werden uns das nicht gefallen lassen! Wir werden uns gründlich vorbereiten und zurückkehren!"

Zustimmende Rufe wurden laut.

"Bravo, Kunold!" – "Wir sind dabei!"

Paul verdarb die kämpferische Stimmung mit einer kleinen Zwischenfrage.

"Welchen Vorwand haben die denn gefunden?"

Sergej Kunold sah ihn an, die Mundwinkel zuckten nach unten, dann herrschte er ihn an.

"Ich weiß wirklich nicht, was ausgerechnet dich kleines Licht das angeht. Kümmere dich um deinen Kram, die Wasserversorgung läuft noch immer nicht optimal. Aber um dich ein wenig zu erleuchten: Wir haben ein kleines Fest gefeiert und dabei ein paar Steaks gegrillt. Ausserdem sind uns ein paar der Dorfbewohnerinnen zur Hand gegangen. Und da sind die direkt ausgerastet, haben uns angegriffen. Na, du Klugscheißer, sind das Primitive oder nicht?"

Paul fasste sich an die Stirn. Steaks! Vom Rind, vermutlich. Und das, wo die Negser nie eines von diesen Rindern schlachten würde, die waren fast so heilig wie die Kühe in Indien. Die Negser hatten ihnen die Tiere nur unter der Bedingung ausgeliehen, dass sie gut und mit Respekt behandelt würden. Und jetzt das. Dann die Dorfbewohnerinnen, wie deren zur Hand gehen ausgesehen hatte, das konnte er sich denken. Prachtvoll, wenn man die relativ rigide Moral in Negs bedachte.

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"Ich vermute, es handelte sich um Steaks vom Rind. Welcher Vollidiot hat da so auf den Gefühlen unserer Gastgeber herumgetrampelt? Ein Sakrileg, das. Und den Frauen habt ihr sicher den Hintern getätschelt. Oder seid ihr noch weiter gegangen, habt ihr die Frauen nach den hiesigen Maßstäben entehrt? Wer hat denn da jede Rücksichtnahme vermissen lassen und uns in die Kacke geritten?"

Kunold brüllte ihn an.

"Unsere Sitten zählen von jetzt an. Diese Wilden haben sich uns anzupassen, basta! Wenn wir Lust auf Rindersteaks haben, dann nehmen wir uns die. Und wenn wir Lust auf deren Frauen haben, dann haben die sich zu fügen, sonst packen wir eben härter zu, selbst schuld. Wir werden das Gesindel mal so richtig in die Schranken weisen, die werden keine Chancen gegen uns haben. Und der Vollidiot hier in der Runde bist du. Du stellst dich gegen unsere Gemeinschaft, nicht zum ersten Mal. Du fällst uns in den Rücken, nicht zum ersten Mal. Du paktierst mit den primitiven Kuhverehrern, nicht zum ersten Mal. Ich habe dich gewarnt, nicht zum ersten Mal. Jetzt ist es genug."

Er holte kurz Luft, dann sah er zu Jonas und Manfred herüber, seinen Freunden von der Sicherheitsstaffel.

"Bringt ihn für eine Weile zum Schweigen."

Paul schluckte. Hatte er jetzt sein Glück endgültig überfordert?

"Was soll das?", fragte er etwas blass, aber die beiden bewegten sich weiter auf ihn zu.

"Einer reicht, es soll doch nicht unfair sein", meinte Kunold herablassend.

Paul beruhigte sich etwas; Jonas hielt weiter auf ihn zu. Paul hatte ihn schon mehrfach beobachtet und wusste, dass er sehr gern mit kreisförmigen Fusstritten gegen den Kopf arbeitete. Der Angriff kam, allerdings mit der Faust gegen die Kinnspitze. Die Faust streifte seinen Kopf nur, da er sich ein wenig nach vorn und aus der Angriffsrichtung bewegt hatte. Im Vorbeigehen griff er sich Jonas Hand, bewegte sich leicht hinter ihn und drehte dann die Hand so weit er konnte. Jonas schrie laut auf, es knackte hörbar und der ganze Arm hing herunter wie ein totes Stück Holz.

Mittlerweile hatte in der Menge lautes, unwilliges Gemurmel eingesetzt. Manfred sah Kunold an, der winkte mit einer heftigen Bewegung ab.

"Lassen wir das, dazu ist noch Zeit."

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Jonas ging stöhnend mit ein paar von Kunolds Leuten weg und die Menge zerstreute sich langsam.

Paul sah sich auf dem Platz um, ihm war unbehaglich zumute. Er fasste sich an sein Kinn, Blut lief herab, Jonas hatte einen Schlagring benutzt. Langsam schlenderte er nach Hause. Er trat ein und wurde unvermittelt von einem Schlag gegen sein Ohr getroffen. Er taumelte zur Seite, wo ihn ein zweiter Schlag traf, diesmal gegen das Kinn. Ihm wurde schwarz vor Augen, er ging zu Boden. Die Tritte gegen seinen Bauch und ins Gesicht bekam er nur noch halb mit, er krümmte sich zusammen, um wenigstens die schlimmsten Tritte abzuwehren. Er merkte noch, wie ein paar kräftige Hände ihn aufnahmen und nach draussen schafften. Paul wähnte schon sein letztes Stündchen geschlagen, dann wurde er ins Gebüsch geworfen.

"... nicht noch einmal Kunold beleidigen ... - die KRAFT ist stärker ..." hörte er noch, dann verlor er für einige Zeit das Bewusstsein.

Als er wieder aufwachte, taten ihm alle Knochen weh. Vorsichtig bewegte er sich, aber es schien nichts Wichtiges gebrochen und auch die Sehnen waren noch ganz. Er schmeckte Blut, seine Lippen waren dick. Auf dem linken Ohr hörte er fast nichts, er blutete aus der Nase und das Atmen fiel ihm schwer, eine Folge der Tritte in den Leib.

Er lag ein paar Schritte neben dem Weg, schon ausserhalb des Dorfes. Jemand ging den Weg entlang, entdeckte ihn aber nicht.

Langsam fand sich auch der ein oder andere klare Gedanke wieder in seinem Kopf ein. Er wollte schon aufstehen, um Mona aufzusuchen, aber dann erinnerte er sich, wie er aus den Augenwinkeln gesehen hatte, dass sie der Aktion ungerührt zugesehen hatte. Offenbar war die Jagd auf ihn jetzt freigegeben.

Er wunderte sich aber, dass man ihn nicht sofort erschlagen hatte, die Gelegenheit war doch günstig gewesen. Unglücklicherweise hatte er keinen der Angreifer erkannt, aber vielleicht hatten da ein paar Heißsporne ohne Weisung von oben, also von Kunold, auf ihn eingeschlagen, um ihn einzuschüchtern. Das zumindest hatten sie erreicht, denn jetzt hatte er endgültig richtige Angst.

Oder auch nicht! Er war sicher, dass er hier im Dorf keinen Tag mehr leben würde. Vielleicht die Hälfte der Menschen waren gläubige Anhänger der KRAFT, der Rest war mittler­weile durch das aggressive Auftreten der Gruppe um Kunold sehr zurückhaltend mit abweichenden Meinungen. Seitdem Pablo verschwunden war, hatte eigentlich niemand mehr offene Kritik an den Allumfassenden gewagt.

Langsam wurde ihm klar, dass hier ein Terrorregime am Werk war, das nach den selben Grundsätzen funktionierte wie das von Stalin oder Hitler. Eine Gruppe muss nur geschlossen und rabiat genug auftreten, dann kann sie sogar eine Mehrheit unterdrücken.

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Also, schlussfolgerte Paul, er war eigentlich schon tot, nur sein Herz schlug noch. Er könnte fliehen, vielleicht, nur wohin? Die Negser würden ihn mit offenen Armen empfangen, nach den Vorfällen der letzten Tage. Die Knn? Die machten womöglich auch kurzen Prozess mit ihm, wer wusste das schon?

Ein Raumschiff kapern, das wars! Nur, welches?

Vielleicht sollte er William aufsuchen, oder Andrus. Den Gedanken verwarf er allerdings schnell wieder, sonst gäbe es ein paar Leichen mehr. Kunold und seine Leute würden sicher mit einem Grossreinemachen beginnen.

Es war klar, er musste aus dem Dorf verschwinden, aber wohin? Er beschloss, sich noch etwas auszuruhen, um sich dann im Schutz der Dunkelheit davonzumachen. Er schleppte sich tiefer in den Wald, legte sich leise unter einen Busch, rollte sich zusammen und schlief wieder ein.

Es war stockfinster, als er wieder aufwachte, nur im Dorf brannten weit entfernt ein paar Laternen. Paul erhob sich, es ging ihm schon ein wenig besser. Er lauschte einige Zeit in die Dunkelheit, dann ging er zum Weg. Die Nacht war sternenklar, wie er durch einige kleine Lücken im Laubdach erpähen konnte, und seine Augen hatten sich längst so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er sich problemlos fortbewegen konnte. Er erinnerte sich an die eigenartige Stelle im Wald, auf der nur Sträucher wuchsen, dort wollte er zuerst hin. Er hatte sich entschlossen, das Risiko auf sich zu nehmen und in die Stadt zurückzukehren. Er hoffte, dort zumindest humaner umgebracht zu werden als hier von Kunolds Leuten.

Die Luft roch wie immer hier im tiefen Wald nach frischer Erde, Blüten, Pilzen. Er sog die Luft ein, sein Lebensmut wuchs wieder. Er kam auf dem schmalen Trampelpfad gut voran, links und rechts hörte er immer wieder ein Rascheln und Knacken, aber er redete sich ein, keine Angst zu haben. Diese Stelle im Wald, die ihn so interessierte, war vielleicht zehn, vielleicht auch fünfzehn Kilometer entfernt, und er würde sicher drei oder vier Stunden unterwegs sein. Er war vielleicht eine Stunde unterwegs und wollte gerade anfangen, systematisch über seine Situation nachzudenken, als er glaubte, ein gutes Stück hinter sich Stimmen zu hören.

Er blieb stehen und lauschte konzentriert. In der Tat, er wurde verfolgt! Wie konnte er auch so blöde sein und glauben, dass man ihn einfach laufen liesse. Es mussten mehrere Leute sein - oder einer, der Selbstgespräche führte. Paul ging an einer dichten Brombeerhecke vorbei, dann legte er sich hinter sie und wartete, wer erscheinen würde. Es dauerte vielleicht zwei Minuten, dann sah er zwei Gestalten auf dem schmalen Weg auftauchen. Als sie näherkamen, erkannte er Andrus und William. Schon wollte er erfreut aufspringen, aber dann wartete er ab. Wenn die ihm nachgingen, konnte wiederum jemand anderes sie verfolgen.

Eine weitere Minute verging, dann tauchte eine weitere Person auf dem Weg auf, diesmal war es Manfred, der hinter den beiden herhetzte.

Paul pries seine Weisheit, einmal war er nicht naiv gewesen.

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Manfred schien sehr in Eile zu sein, offenbar wollte er die beiden anderen einholen. Schnell, aber leise erhob sich Paul und ging nun hinter Manfred her. Er blieb gelegentlich stehen, um nach vorn zu lauschen. Einige Male hörte er Manfred marschieren, auch Andrus und William waren weiter entfernt zu hören, wenn sie sich wieder einmal unterhielten.

Dann hörte er auf einmal einen erschreckten Schrei - Andrus? - und eine erregte Unterhaltung begann. Als er näher kam, konnte er auch einige Worte verstehen.

"Ihr seid hinter Paul her, stimmts?", fragte Manfred im Ton eines Verhörs.

"Hat Kunold dich hinter uns hergeschickt?", fragte ein höbar verunsicherter William. "Musstest du uns so erschrecken?"

"Ich habe euch im Wald verschwinden sehen und bin direkt hinter euch her, aber Kunold wird es früh genug erfahren, verlasst euch drauf. Und dann solltet ihr eine vernünftigere Erklärung vortragen als mir eben."

"Du glaubst uns nicht, wie?" Andrus war das.

Manfred winkte nur verächtlich ab.

"Ihr kommt jetzt mit. Nach diesem Arsch suchen wir morgen, wir wissen ja jetzt wo, vielen Dank. Mit dem ist es dann auch vorbei."

"Du hast uns keine Befehle zu erteilen", meinte William und wollte sich schon wegdrehen.

Manfred packte ihn am Arm und drehte ihn auf den Rücken.

"Halt das Maul, sonst bringe ich dich gleich hier unter die Erde und deinen Freund hier mit!"

"Manfred, lass uns doch miteinander reden", sprach Andrus fast flehentlich und sah Manfred ängtlich an. "Wir wollten nichts von Paul, der interessiert uns nicht."

"Du Blödmann und Hanswurst", raunzte Manfred ihn an. "Was wolltet ihr denn hier im Wald? Habt ihr euch so lieb?"

Paul hatte sich der Gruppe mittlerweile unbemerkt genähert. Dann stürzte er mit einem lauten Brüllen auf Manfred zu.

Der schaute sich erschrocken um, aber Andrus hatte ihn schon einen Moment früher entdeckt.

Er schien nur auf eine solche Gelegenheit gewartet zu haben. Geschmeidig huschte er seitlich auf Manfred zu und schoss einen Hagel kurzer und extrem schneller Fausthiebe gegen sein Ohr und seinen Hals ab. Nur Andruss Fäuste schienen sich zu bewegen, sechs, vielleicht sogar achtmal pro Sekunde trafen sie Manfred. Der taumelte, dann fiel er benommen zu Boden.

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Andrus liess sich mit aller Kraft auf ihn fallen, wobei er ihm seinen Ellenbogen in den Hals rammte.

William stöhnte kurz auf, Manfred hatte wohl seinen Arm noch einmal verdreht, als er zu Boden ging.

"Das war ein Auftritt im genau passenden Moment, Paul", begrüsste ihn ein zufrieden aussehender Andrus. "Ich hatte schon überlegt wie ich ihn ablenken könnte."

Er beugte sich über Manfred, um seinen Zustand zu überprüfen. Zufrieden erhob er sich.

"Requiescat in pacem", meinte er dann sarkastisch. "Der ist fertig, der kann weg."

Er sah zu Paul herüber.

"Du warst doch vor uns, wieso kamst du jetzt von hinten?"

Paul fand langsam seine Fassung wieder.

"Ihr habt einfach zu laut geschwätzt. Ich habe euch gehört, vorbeigehen lassen und dann noch ein wenig gewartet. So habe ich auch Manfred gesehen und bin dann euch allen gefolgt." Er zögerte ein wenig. "Man entdeckt ja noch richtige Talente an dir, Andrus. Erst spielst du den Ängstlichen, dann bettest du ihn ganz cool auf ewig."

Andrus setzte sich auf einen umgestürzten Baum und wirkte nicht mehr ganz so cool.

"Ich glaube, ich hatte keine andere Möglichkeit, der hätte doch alles weitergeplappert. Und lieber ein toter Manfred als ein toter William, Paul, Andrus und wer weiss noch."

William wirkte noch etwas verwirrt und sah zu Manfred runter.

"Das gibt Ärger! Der wird alles Kunold erzählen!"

"Aber aus dem Jenseits, der hats hinter sich!", meinte Paul böse grinsend.

William schaute mit einer Mischung aus Abscheu und Wut auf Manfred, als er endlich begriffen hatte, dass er tot war.

Paul holte ihn aus seinen Gedanken.

"Kommt, wir ziehen ihn in den Wald, ich kümmere mich gelegentlich um eine würdevolle Bestattung."

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Nach kurzem Zögern packten alle mit an. Sie trugen ihn hundert Meter weit in den Wald und deckten ihn mit ein paar Zweigen ab.

Andrus und William erzählten dann, dass einer von Andrus Mitarbeitern gesehen hatte, wie er in den Wald geworfen worden war. Andrus hatte daraufhin mit William Kontakt aufgenommen und sie hatten ihn dann beobachtet, als er im Wald verschwand.

"Wir haben noch einen Rucksack mit ein paar Sachen fertiggemacht und sind dann hinter dir her", schloss William den kurzen Bericht ab und überreichte ihm die zusammengepackten Vorräte.

Paul nahm sie dankbar entgegen.

"Jungs, ihr riskiert Kopf und Kragen für mich."

Er fand eine Wärmedecke, ein wenig Kleidung, Medikamente, Schokolade, Müsli, ein Kombiwerkzeug, Kompass und noch weitere nützliche Dinge.

"Das Kombiwerkzeug ist gut! Ich werde den Kerl damit einbuddeln und die Stelle dann tarnen. Irgendwann werden die anfangen, ihn zu suchen. Ihr müsst zurück, bevor man euch vermisst."

"Und du?", fragte Andrus.

"Ich versuche, Negs zu erreichen. Vorher untersuche ich aber im Wald noch eine Stelle, die mir eigenartig erscheint."

Sie fragten nicht, was er damit meinte, weil sie es offen­bar nicht für wichtig hielten. Die drei verabschiedeten sich herzlich voneinander.

"Ich hoffe nur, dass wir uns wiedersehen", sagte Andrus.

Paul nickte und zuckte mit den Schultern. Dann umarmte er die beiden anderen und dankte ihnen noch einmal für ihre Hilfe.

"Passt auf euch auf!"

Sie gingen Richtung Dorf davon, er sah ihnen nach. Irgendwo rief ein Vogel in die Nacht, dann verschmolzen ihre Silhouetten mit der Dunkelheit des Waldes.

Ab 22jul10: 76 Bes.