I - Kapitel 2
08.Jul.25 .. 17:34 Uhr
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Orte, Personen

Hilfe, Technik

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Im Wald << Seite 1 >>

Es ging leicht bergab und er hatte trotz des sandigen Untergrunds das Gefühl, schnell voranzukommen. Ärgerlich sah er auf sein leeres Handgelenk, wo eigentlich seine Uhr sein sollte; irgndwie fehlte ihm da etwas.

Als er sich umschaute, sah er die Stadt abweisend auf dem Hügel liegen. Zwar waren in den äußeren Häusern Fenster, aber er sah keine Türen oder Tore. Rings um die Stadt war nur wüstenhaftes Land; der in einiger Entfernung liegende Wald war die einzige grüne Fläche, die er entdecken konnte.

Er schätzte, dass er etwa drei Stunden lang unter der heißen Sonne marschiert war, als er feststellen musste, dass er die Entfernung zum Wald erheblich unterschätzt hatte. Er würde wohl weitere drei Stunden brauchen, bis er ihn erreichen würde, vielleicht sogar mehr. An seinem Gürtel fand er eine Flasche mit Wasser; die beiden Männer mussten sie ihm gegeben haben, bevor sie ihn aus dem Fenster ließen. Er fragte sich, was mit ihm los war, dass er sich noch nicht einmal erinnern konnte, wann das passiert war. Es blieb das dumpfe Gefühl, dass er langsamer dachte als sonst, langsamer und gleichzeitig weniger klar, so als ob er gerade nach einem viel zu kurzen Schlaf aufwachte.

Die Zeit, die er bis zum Erreichen des Waldes benötigen würde, bot eine gute Gelegenheit, sich ein paar Gedanken um seine Vergangenheit zu machen. Seine Heimat war eine grüne Hügel­landschaft im Herzen Europas, dessen war er sicher.

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Er durchforschte sein Gedächtnis weiter und fand heraus, dass ihm zu naturwissenschaftlichen und technischen Problemen weit mehr einfiel als zu literarischen Themen. Mit dem Namen Rutherford beispielsweise verband er einen berühmt gewordenen Versuch zur Modellbildung bei Atomen, ihm kamen sogar technische Einzelheiten, Jahreszahlen und Schlussfolgerungen aus diesem Versuch in den Sinn. Zu Goethe fiel ihm dagegen nur Faust, Mephisto und Gretchen ein. Ach ja, einen Sinnspruch hatte er auch noch im Kopf: Hier steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor - das war nun wirklich ein Trost. Auch Musik war eine ziemliche Fehlanzeige: er liebte Hardrock, auch Verdi oder Händel waren ihm freilich nicht zuwider; all das bewegte sich aber offenbar auf einer rein rezeptiven Ebene.

Im Bereich Kunst erinnerte er sich wieder an mehr: Klee, Picasso, Monet, Moore - vor allem Impressionisten und Expressionisten.

Einen richtigen Reim konnte er sich nicht auf diese Bruchstücke machen; war er ein Experte für Kunst­fälschungen oder ein naturwissenschaftlich Halb­gebildeter mit Freude an Kunst und Musik? Er fand keine Antwort. Vor allem aber: wie war er in diese Gegend geraten, warum war er hier und wo war er hier?

Weitere Stunden vergingen, aber dann war er dem Wald doch nahegekommen, noch einige Minuten weiter den sanften Hügel hinunter, und er hatte den Waldrand erreicht. Gott sei Dank, sagte er sich, denn Hunger und Durst begannen ihn zu quälen; außer­dem hatte sich die Sonne dem Horizont schon bedenklich genähert und er hatte keine Lust, in der Wüste zu übernachten. Der Himmel verfärbte sich flammend orangerot, einige Wölkchen standen hoch am Himmel. Es war ein wirklich schönes Bild. Er liebte Sonnenuntergänge und konnte sich nicht erinnern, jemals solch intensive Farben und eine solch eigenartig gefärbte Sonne gesehen zu haben.

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Langsam begann die Vegetation: Dickblattgewächse wie Hauswurz und Sempervivum, dann einige Wüstengräser und kleine gelbblühende Pflanzen, die ihm unbekannt waren. Dann ging es steil bergab und erstaunlich plötzlich stand er im Wald. Er atmete die Düfte des Waldes tief ein und lauschte dem Zwitschern von Vögeln und dem Summen der Insekten. Hier war eine andere Welt.

Er wollte sich gerade setzen, um sich ein wenig auszuruhen, als er links von sich eine Bewegung im Wald wahrnahm. Er erschrak ein wenig und erwar­tete, ein größeres Tier zu sehen, einen Fuchs vielleicht.

Dann hörte er zu seiner Überraschung eine Frauenstimme.

“Paul, da bist du ja wieder. Wie hast du es geschafft, zu entkommen?”

Eine blonde, hübsche und ziemlich große Frau, vielleicht 40 Jahre alt, stand neben einem Busch, lächelte ihn an und breitete die Arme aus.

Verwirrt sah er sie an. Sie kannte ihn, aber er kannte sie nicht, jedenfalls nicht richtig. Trotzdem wurde ihm warm ums Herz.

Sie bemerkte sein Erstaunen.

“Paul, erkennst du mich nicht? Ich bin’s, Mona.”

Dann, nach einigem Zögern und mit einem Zittern in der Stimme: “Was ist, erinnerst du dich nicht mehr an mich? Paul, was haben die mit dir gemacht?”

“Hilf mir auf die Sprünge”, sagte er unsicher. “Du kommst mir zwar bekannt vor, aber ich erinnere mich nicht, ich erinnere mich an so vieles nicht. Wo bin ich hier überhaupt?”

Sie sah ihn besorgt an. “Was ist passiert? Weißt du nicht mehr, wer ich bin? Du weißt nicht mal, wo du bist? Komm mit, ich bringe dich ins Dorf zu Sergeij.”

Energisch fasste Mona ihn an der Hand und zog ihn in den Wald, wo sie einem Pfad folgten, der wohl auch bei vollem Tageslicht kaum zu erkennen war.

“Erzähl mir doch was über dich oder mich, vielleicht fällt mir dann wieder einiges ein”, bat er sie.

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Sie schüttelte den Kopf. “Die Kerle scheinen dich unter Drogen gesetzt zu haben. Ich denke, dass Sergeij besser weiß, was da zu tun ist, meine medizinischen Kenntnisse reichen da gewiss nicht aus. Wenn ich dir irgendwas falsches erzähle, schade ich dir womöglich mehr als ich dir nutze.” Sie wirkte bei ihrer Begründung irgendwie traurig oder melancholisch.

So gingen sie also schweigend durch den Wald, der schnell sehr dicht wurde. Große Buchen bildeten das Gerüst, unter ihnen breitete sich eine reichhaltige Schicht aus hohen und niedrigen Sträuchern aus, der Boden war von Gras und Kräutern bedeckt. Es war dämmrig, aber der Duft von Erde und Blumen erfüllte die Luft. Hin und wieder flog ein Vogel auf, manchmal meinte er auch, links und rechts im Gebüsch einige Bewegungen zu hören, aber er konnte keine Tiere erkennen. Nach einer viertel Stunde wurde der Wald etwas lichter, dann konnte man die ersten Hütten zwischen den Bäumen erkennen.

Sie waren im Dorf angekommen.

Mona führte ihn an einigen Blockhäusern vorbei zu einem kleinen Platz. Über einer Tür standen die Buchstaben HQ, dort klopfte Mona an und trat ein. Sie standen direkt mitten im größten Raum der Hütte. An einem großen Tisch saßen zwei Männer und eine Frau. Alle drei sprangen auf, als er eintrat und liefen auf ihn zu.

“Paul, da bist du ja wieder.” - “Wo warst du?” - “Wie bist du hergekommen?” - “Wie geht es dir?” Alle redeten aufgeregt durcheinander.

Mona schob sie zurück. “Lasst ihn doch erst mal Platz nehmen und gebt ihm etwas zu essen und zu trinken. Ich habe ihn am Waldrand aufgelesen, als er aus der Wüste kam.”

Man schob ihm einen Stuhl hin, auf den er sich setzte. Er sah sich um, während die anderen Teller, Tassen, Essen und Getränke holten.

Derjenige, der mit Sergeij angeredet wurde, war ein großer Mann mit Brille und leicht vorstehenden Augen; er redete bestimmt, fast arrogant mit den anderen und war offenbar der Chef. Hermfried war etwas kleiner und ziemlich beleibt; er schien jünger zu sein als seine grauen Haare vermuten ließen und seine flinken, stets lächelnden Augen ließen ihn freundlich und sympathisch wirken. Andra war eine hübsche, wenn auch sehr robust wirkende Frau mit einem sommer­sprossigen Gesicht; sie war fast so groß wie Hermfried. Paul fielen sofort ihre gewandten, fast schon raubkatzenartigen Bewegungen auf.

Bei allen hatte er das gleiche Gefühl: er kannte sie, wusste aber nicht, warum und woher.

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Der Raum war einfach eingerichtet, ähnlich wie in dem Haus in der Stadt, wo er die beiden Männer getroffen hatte. Der große Tisch, an dem er saß, mindestens zehn grob gefertigte Holzstühle, einige Regale aus Holz und ein einfacher Schrank, das war alles. Eine Tür führte offenbar in die Küche, in der die vier anderen verschwunden waren, eine weitere Tür war geschlossen.

Dann saß er hinter einem Teller mit einem schmackhaft riechenden Eintopf mit Geflügelfleisch, wie die anderen hatte er eine Tasse mit Tee vor sich stehen.

Während des Essens erzählte er das, woran er sich erinnern konnte. Die anderen wechselten zuweilen besorgte Blicke.

“Und jetzt bin ich hier, weiß aber nicht, wo hier ist. dass ich Paul heiße, weiß ich auch nicht. Da ihr mich aber alle so anredet, wird das wohl mein Name sein.”

Sergeij ergriff das Wort.

“Du weißt nicht, wie du hier auf ... - in diese Gegend gekommen bist?”

“Doch sicher.” Er bemerkte, wie sich Sergeijs Stirn in Falten legte. “Aus dieser Stadt, von der ich nicht weiß, wie sie heißt.”

“Da können wir helfen: Negs heißt die Stadt.”

Hermfried gab diese Infor­mation, aber Sergeij schnitt ihm das Wort ab.

“Wirf ihn nicht mit Informationen zu, er muss sich selbst finden.”

Dann wandte er sich an Paul.

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“Eines können wir dir aber sagen, ohne dir zu schaden: Man hat dich in Negs offenbar mit einem pflanzlichen Halluzinogen behandelt, und das ist aus irgendwelchen Gründen schief­ge­gangen. Es war wohl eine Überdosis, die dir die letzten Jahre geraubt hat. Unser Problem ist jetzt, wie wir diese Jahre gemeinsam wieder aus dem Dunkel holen, ohne Schäden zu verursachen. Weißt du, wir haben auch schon einige unangenehme Erfahrungen mit der hiesigen Vegetation gemacht. Ich vermute, Mona war nicht sehr überrascht, als sie dich in diesem Zustand fand.”

Mona nickte und sagte dann: “Paul ist müde und verwirrt, wir sollten ihn erst einmal gründlich ausschlafen lassen.”

Die anderen nickten und auch Paul hielt für eine gute Idee, sich schlafen zu legen. Sein Kopf brummte und er war hundemüde.

“Weißt du eigentlich, wo du schläfst”, fragte Mona.

Paul schüttelte den Kopf.

“Du kommst mit zu mir”, fuhr Mona fort. “Wir waren zusammen, bevor du diesen Unmenschen in die Hände gefallen bist.”

Paul sah Mona nachdenklich an und bemerkte, dass ihm dabei nicht nur ums Herz warm wurde. Die Frau hatte ihm sofort gefallen. Er fand den Gedanken, bei ihr zu übernachten, die erfreulichste Angelegenheit des Tages und hoffte, dass seine Phantasie nicht mit ihm durchging.

Monas Hütte war nicht weit entfernt. Alle Hütten im Dorf hatten einen ähn­lichen Aufbau: roh behauene Baumstämme mit einem Dach aus Holz­schindeln, romantisch wie in einem alten Wildwestfilm.

Mona gab ihm noch ein scharf schmeckendes alkoholisches Getränk, dann gingen sie in einen Schlafraum, der gut zum Äußeren des Hauses passte. Das Bett war hart, es hatte eine Matratze aus Heu und Stroh, und auf dem Bett lagen ein Dutzend großer, weicher Felle.

Mona war nicht nur hübsch, sondern auch sehr liebevoll, und er fand, dass seine Erwartungen erfüllt wurden. Bevor er einschlief, merkte er, dass dieses ständige Gefühl von Verfolgung und Furcht langsam von ihm abfiel. Nur noch tief im Unterbewusstsein nahm er ein leises Unwohlsein wahr.

Ihm war, als wäre er von einer langen Reise nach Hause zurückgekehrt.

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Am nächsten Tag wurde er von einer Mischung aus Morgensonne, geschäftigem Treiben draußen und einem aus dem Nebenraum herüber­ziehenden Duft geweckt.

Er stand nicht sofort auf, sondern dachte über das Gesche­hene nach. Beim Gedanken an Monas Körper bedauerte er, dass sie nicht neben ihm lag, sondern sich offenbar in der Küche zu schaffen machte. Nun, es würde wohl nicht der letzte gemeinsame Abend gewesen sein.

Dann überlegte er, was er in Negs gesucht haben könnte, und warum er nicht zu Hause in Deutschland geblieben war, sondern in dieses Camp gefahren war.

Er stutzte. Deutschland? Wieso Deutschland? Ihm kamen Bilder in den Sinn, Bilder von einer Familie, drei Kindern, einer Frau, einer anderen als Mona. Er hatte irgendwo im Bereich Naturwissenschaft gearbeitet, aber als was genau und wo?

Jetzt stand er schnell auf, entdeckte eine Schüssel mit kaltem Wasser auf der Kommode neben dem Bett und schüttete sich etwas davon ins Gesicht. Er lief in die Küche, wo Mona am Tisch saß und frühstückte.

“Komm, setz dich und iss was”, sagte sie. Dann, als sie seine Verwirrung bemerkte, fragte sie: “Was ist, geht es dir gut? Hast du gut geschlafen?”

Die Frage ließ ihn lächeln. “Doch, wirklich gut, es hätte nicht besser sein können.” Dann fügte er ernster werdend hinzu: “Mir fallen einige Dinge ein. Deutschland, eine Familie, Naturwissenschaftler. Sag mal, wo sind wir hier eigentlich und was machen wir hier? Bist du nicht meine Frau? Bin ich meiner Familie abgehauen? Oder ist das eine Forschungs­reise?”

Sie machte erstaunlicherweise ein erschrockenes Gesicht.

“Lass uns sofort zu Sergeij und Hermfried gehen. Dieses Zurückkehren der Erinnerung ist nicht ungefährlich, da kann es zu einem Schock kommen. Hermfried ist unser Arzt, ich weiß nicht, ob du dich erinnerst. Er kann im Notfall helfen.”

Mona stand auf, ohne ihr Frühstück zu beenden.

“Komm, Paul.”

Sie gingen schnell zu Sergeijs Haus. Unterwegs trafen sie viele Leute, die ihn freundlich grüßten; er grüßte zurück. Langsam gewöhnte er sich daran, von Leuten umgeben zu sein, die ihm zwar bekannt vorkamen, die er aber nicht einordnen konnte.

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In Sergeijs Haus trafen sie wieder das Trio des gestrigen Abends an. Mona berichtete kurz, dann wandte sich Sergeij an ihn.

“Mona hat dir ja schon gesagt, dass man in solch einem Fall von Gedächtnisverlust nicht vorsichtig genug sein kann. Amnesie ist eine kritische Angelegenheit.”

“Ich erinnere mich, von früher”, sagte Paul.

“Wie, von früher?”

“Nun, aus der Zeit weit vor meinem Gedächtnisverlust. Das kann zu massiven psychischen Problemen führen, wenn man die Patienten nicht vorsichtig in die Vergangenheit zurück­führt. Ich hatte irgendwas mit Naturwissenschaften zu tun, deshalb habe ich davon wohl schon was gehört.”

Die vier sahen sich offenbar erleichtert an.

“Dann weißt du ja, warum wir so vorsichtig vorgehen.”

Dann fragte Hermfried: “Wenn du nicht mehr weißt, wo wir sind, hast du denn eine Theorie, wo wir hier sind?”

“Ich habe schon auf dem Weg von der Stadt in den Wald überlegt, wie ich hier hergekommen sein könnte und wo ich bin. Nun gut. Erstens: Ich komme aus Deutschland und dies ist nicht Deutschland. So eine Gegend gibt es da nicht, auch die Sprache der Einwohner von Negs war mir völlig unbekannt. Ich vermute, dass wir nicht mal in Europa sind. Der Tee, den es sowohl hier gibt wie auch in der Stadt, hat mich auf die Idee gebracht, dass wir im Himalajagebiet sein könnten, in einem der hochgelegenen Wüstengebiete. Ich habe immer gern Tee getrunken und der hier erinnert mich an Darjeeling oder irgendeinen der milderen Sorten aus China. Auch die Kultur in der Stadt könnte damit übereinstimmen, ich erinnere mich, ähnliches in Reiseberichten im Fernsehen gesehen zu haben. Zweitens: Für den Grund meines Hierseins ziehe ich zwei Möglichkeiten in Betracht. Entweder befinde ich mich auf der Flucht vor meiner Frau und meinen drei Kindern, da ich mich dunkel an sie erinnere; Mona war diese Frau nicht, also könnte ich mit ihr abgehauen sein. Oder wir befinden uns hier auf einer Forschungsreise unter allerdings reichlich einfachen Bedingungen: kein Strom, keine Computer, keine Fahrzeuge, gemütliche, aber sehr rustikale Unterkunft. Mehr fällt mir auf Anhieb nicht ein.”

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Wieder sahen sich die vier erleichtert an. Sergeij und Mona nickten sich an.

“Also dein analytischer Verstand funktioniert noch, Gott sei Dank”, sagte Sergeij. “Deine erste Vermutung trifft erstaunlich genau zu, wir sind wirklich im Himalajagebiet. Bei der zweiten Vermutung wird es schwieriger. Hier wollen wir dir noch nichts sagen, bis dir mehr dazu einfällt.”

Hermfried ergänzte: “Wenn man der Erinnerung zu sehr vorgreift, kann es zu Identitätskrisen kommen. Es hat sich als besser erwiesen, den Patienten - du entschuldigst, dass ich dich jetzt so nenne - selbst sein Gedächtnis wiederfinden zu lassen. Wie fühlst du dich körperlich? Eigentlich hätte ich dich gestern schon kurz untersuchen sollen, aber du schienst einigermaßen fit zu sein, deshalb habe ich dich so gehen lassen.”

Er legte ihm ein kleines Gerät auf das linke Handgelenk, schaute nach einer Weile darauf und sagte: “Puls und Blutdruck normal. Die Atmung ist auch in Ordnung.” Er klopfte kurz seinen Rücken ab. “Alles o.k., würde ich sagen. Körperlich fehlt dir auf den ersten Blick nichts. Es bleibt offenbar nur das Amnesie­problem. Wenn dir etwas Neues einfällt, komm bitte sofort zu uns.”

Mona hatte in der Zwischenzeit ein kleines Frühstück in der Küche vorbereitet und brachte es an den Tisch. Frisches Brot und die Früchte des Waldes, er aß es mit Genuss.

Nach einiger Zeit kamen Sergeij und Andra wieder zurück.

“Paul, ich denke, du solltest dich ein wenig im Dorf und seiner Umgebung umsehen. Andra wird dich begleiten. Sie kennt die Gegend und ihre Gefahren wie niemand sonst. Du kannst sie ruhig fragen, wonach du willst. Oft wird sie dir allerdings keine Antwort geben; wie schon erwähnt, wir haben hier auch schon vor dir schlechte Erfahrungen mit Halluzinogenen gemacht.”

Als er mit dem Frühstück fertig war, ging er mit Andra aus dem Haus. Zuerst gingen sie über den großen Dorfplatz und verließen dann das Dorf in der entgegengesetzten Richtung, aus der er gestern gekommen war.

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Als er mit dem Frühstück fertig war, ging er mit Andra aus dem Haus. Zuerst gingen sie über den großen Dorfplatz und verließen dann das Dorf in der entgegengesetzten Richtung, aus der er gestern gekommen war.

“Ich zeige dir zuerst mal unsere landwirtschaftliche Produktionseinheit. Bis wir da sind, erzähle ich dir was über das Dorf. Hier wohnen 289 Leute in 83 Hütten. Du hast ja gesehen, das ist alles der gleiche Baustil in Westernatmo­sphäre. Wir sind 122 Frauen zwischen 23 und 61 Jahren und 167 Männer zwischen 25 und 58. Die meisten haben eine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung, das geht vom Elektronikingenieur bis zum Gärtner; zu denen gehörst du auch.”

“Was war - oder bin ich denn genau”, fragte er dazwischen.

“Sergeij meint, das sollte dir besser ohne Hilfe einfallen. Sergeij ist der Chef hier im Dorf, Hermfried der Arzt, Mona arbeitet in der landwirt­schaftlichen Produktion und ich bin so eine Art Experte für Organisation und Logistik, außerdem bin ich für die Sicherheit hier im Dorf mitverantwortlich.”

“Heißt das, dass du eine militärische Ausbildung hast?”

“Das gehörte zwar auch dazu, ist aber nicht der Schwerpunkt meiner Aufgabe hier, das fällt nur nebenbei an.” Dann fuhr sie mit den Erklärungen fort. “Wir produzieren unsere Nahrungsmittel wohl oder übel selbst, bisher hat das aber auch ganz gut funktioniert. Es geht uns eigentlich ganz gut hier.”

Sie kamen an eine Stelle, an der sich der Wald zu einer riesigen Lichtung öffnete. Paul schätzte die Größe auf 300 Meter im Quadrat, also etwa 10 Hektar. Getreide­ähren bewegten sich in einem schwachen Wind, dazwischen gab es Gemüse­kulturen, an einer Ecke sah er einen kleinen Pferch mit einem Hühnerstall. Ein Mann und eine Frau winkten zu ihm herüber, worauf sie sich dorthin begaben.

Die beiden stellten sich als Will und Jane vor.

“Wir haben schon gehört, dass du wieder fit bist, Paul. Du siehst gut aus”, begrüßte ihn Will. Jane nickte zustimmend. “Wir haben uns große Sorgen gemacht, aber es geht dir ja offenkundig gut.”

Paul lächelte freundlich zurück. “Ich fühle mich auch gut und es gefällt mir hier. Aber ihr müsst entschuldigen: ihr kommt mir bekannt vor wie die anderen hier und trotzdem weiß ich immer noch nicht, wo ich bin, wer ihr seid und wer ich bin.”

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Die beiden schauten zu Andra, die mit den Schultern zuckte und dann zustimmend nickte.

“Na, das wird schon wieder”, versuchte Jane ihn zu trösten.

Paul sah dem munteren Treiben der Hühner zu. Zwei buntschillernde Hähne versuchten, ihre Rangordnung zu bestimmen, während um sie herum die Hühner unter ständigem Gegacker in dem nackten Boden nach Würmern scharrten und Körner aufpickten. Es war faszinierend zu sehen, wie vollständig Hühner den Boden von jeder Vegetation freihielten.

Sie verabschiedeten sich und begaben sich zurück in den Wald. Andra erklärte weiter.

“Wir haben noch fünf weitere Lichtungen in dieser Größe, außerdem im Wald drei abgezäunte Gebiete zur Haltung von Schweinen. Du siehst, alles ist wohl­organisiert.”

“Das ist wohl ein Lob an dich, wie?”

“Ach was. Ich bin zwar mit dafür verantwortlich, aber nicht allein. Kommt dir eigentlich nichts hier bekannt vor?”

“Also das ist eigenartig. Die Gegend hier ist mir unbekannt, das Dorf ist mir unbekannt, es klingen auch keine Erinne­run­gen an. Bei den Leuten ist das ganz anders. Bei den beiden gerade habe ich gespürt, dass ich sie kannte und sogar, dass ich sie mochte, auch ohne dass ich wüsste woher ich sie kannte. Jane gefiel mir ausgesprochen gut, als Mensch wie als Frau.”

Er bemerkte einen kritischen Seitenblick von Andra.

Verlegen lächelnd fuhr er fort: “Entschuldige meinen man­geln­den Charme. Du gefällst mir auch, ich be­wun­dere die elegante Art, in der du dich bewegst.”

Dann stutzte er stirnrunzelnd. “Sag mal, bin ich hinter jeder Schürze her?”

Sie lachte über seine Ausdrucksweise. “Nicht hinter jeder”, gab sie zurück. Er bildete sich ein, einen bedauernden Unterton in ihren Worten zu hören.

Er sah sie ernst an. “Ich bewege mich hier wohl auf dünnem Eis. Ich finde dich wirklich sehr attraktiv, ich möchte aber keinen Unsinn anfangen, von solchen Dingen lasse ich lieber die Finger. Unannehmlichkeiten mache ich euch wohl auch so genug.”

Andra sah ihn unschlüssig an, dann zuckte sie mit den Schultern und nickte. “Ist wohl das Beste so.”

Das kleine Gespräch über zwischenmenschliche Beziehungen verwirrte ihn. Er hatte schon lange nicht mehr in den Spiegel geschaut und wusste nicht, ob er nun schön war oder nicht. Sein Gesicht fiel ihm wieder ein, zum ersten mal, seitdem er wieder bei zu Bewusstsein gekommen war. Nein, sein Aussehen prädestinierte ihn nicht zu einem Frauenhelden, er war zwar ziemlich groß, aber überhaupt nicht schön - nun, vielleicht hatte er Charme und Humor, wer weiß.

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Andra erzählte weiter über die Organisation der Gemein­schaft, während sie durch den dichten Wald gingen. Sie kamen an einem umzäunten Gebiet vorbei, in dem sich etliche Schweine tummelten. Richtig ökologische Tier­haltung mit glücklichen Schnitzeln von glücklichen Schweinen, dachte er. Sie sahen sich eine weitere Rodung an, wo sie wieder freundlich begrüßt wurden. Hier war eine ähnliche Mischkultur angelegt wie auf der ersten Lichtung, nur waren diesmal auch Kartoffeln dabei.

Schließlich kamen sie zu einem riesigen Baum tief im Wald.

“Hier siehst du einen zentralen Pfeiler unseres Sicherheits­systems. Weit oben, nur über eine Strickleiter zu erreichen, ist eine kleine Aussichtsplattform, von der aus wir den größten Teil des Umlandes beobachten können. Die größte Aufmerksamkeit bekommt natürlich Negs.”

Bei dem Gedanken, da hinauf zu müssen, wurde Paul mulmig. So, als könnte sie Gedanken lesen, sagte Andra: “Rauf müssen wir nicht, keine Sorge.”

“Sag mal, Andra, was haben die eigentlich gegen uns, oder was haben wir gegen die? Mir geht noch was dauernd im Kopf herum: Ihr - oder sollte ich sagen wir? - habt euch hier so richtig auf Dauer niedergelassen, wie es scheint. Wollen wir denn nicht irgendwann nach Hause zurück?”

“Wollen schon”, gab Andra etwas bitter zurück. “Wollen, aber nicht können. Wenn dir dein Gedächtnis wieder zur Verfügung steht, dann fällt dir auch wieder ein, warum.”

“Du sagst es mir nicht?”

“Nein, besser nicht.”

“Aber wenn wir hier auf Dauer bleiben wollen, dann müssten doch auch Kinder hier sein. Oder handelt es sich um einen Unglücksfall?”

“So was in der Richtung. Aber frag bitte nicht weiter, es reicht erst mal, wenn du beunruhigt bist, mehr würdest du vielleicht im Moment nicht vertragen.”

Da war dieses komische Gefühl, dieses Gefühl, nichts zu wissen, das Gefühl, in einem Spiel mitzuspielen, dessen Regeln man nicht kannte, dessen Beginn man nicht miterlebt hatte, dessen Ziel nicht bekannt war. Die Mitspieler kannte er nicht wirklich, er wusste nicht einmal, wer seine Mitspieler waren und wer seine Gegenspieler. Doppelkopf auf einer höheren Ebene!

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Sie gingen weiter auf dem Weg durch den Wald. Es ging langsam auf Mittag zu, und sie näherten sich wieder dem Dorf. Der Weg wurde etwas breiter und die ersten Hütten standen unter und zwischen den Bäumen, es wirkte wie ein Märchendorf aus Blockhütten, anheimelnd und gemütlich.

Nur wenige Leute waren im Dorf, die meisten kümmerten sich wohl um die Landwirtschaft. Auch Mona war nicht da.

“Du hast ja mich”, flachste Andra. “Komm, wir gehen zu Sergeijs Haus, viel­leicht haben sich die hohen Herren ja überlegt, wie sie deinem Gedächtnis ein wenig helfen können.”

Hermfried hatte sie schon kommen sehen und erwartete sie an der Tür.

“Kommt, wir wollen essen.”

Der Tisch war gedeckt, und Sergeij trug mit einer Frau, die er bisher noch nicht gesehen hatte, das Essen auf. Wie gestern war es relativ einfach, aber schmackhaft. Diesmal waren es Kartoffeln mit einer fleischhaltigen Sauce, dazu gab es Salat. Während des Essens erzählten Andra und Paul von ihrem kleinen Ausflug. Schließlich hob Sergeij zu einigen Erklärungen an.

“Wir hängen hier tatsächlich fest. Es hat in Europa und nicht nur dort eine Katastrophe gegeben. Wir mussten weg und haben keine Möglichkeit zur Rückkehr.”

“Was denn für eine Katastrophe? Ist die Umwelt aus dem Gleichgewicht? Krieg? Hunger?”

“Eine Mischung aus alledem. Es fing damit an, dass die globalen Tempera­turen sehr schnell anstiegen. Die folgenden gewaltigen Stürme brachten Tod und Vernichtung. Erinnerst du dich wirklich an nichts mehr?”

Paul durchforstete mit aller Kraft sein Gedächtnis, aber er fand nichts. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Irgend etwas hätte doch in seinem löchrigen Hirn hängen bleiben müssen.

“Nun, um es kurz zu machen, die größte Katastrophe war der Zusammenbruch der Böden. Die Ertragseinbußen waren gewaltig und kamen außer­ordentlich schnell. Hungersnöte brachen aus, nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in den Industrieländern.”

Nun schaltete sich die Frau in das Gespräch ein. Gisa war vielleicht 45 oder 50 Jahre alt, hatte streng nach hinten gescheiteltes Haar und blickte sehr ernst drein.

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“Das große Problem war die schnelle Veränderung der Parameter. Die strukturelle Flexibilität der ökonomischen Systeme war auch in den Industrieländern nicht so weit ausgeprägt, dass die enormen Umwälzungen hätten abgefedert werden können. Dies hatte eine sich exponentiell entwickelnde Katastrophe zur Folge. Die industriellen Strukturen zerbrachen, die gesamte Logistik der reichen Ländern zerfiel, das Leben war gekennzeichnet von einem brutalen, kriminellen Kampf ums Überleben. Diesen Bürgerkrieg konnte nicht einmal ein Militärputsch beenden.”

“Das ging nur noch jeder gegen jeden”, fuhr Hermfried fort. “Niemand hätte gedacht, dass unsere hochentwickelte technische Zivilisation innerhalb von weniger als zwei Jahren einen so kompletten Kollaps erleiden könnte. Mittlerweile leben höchstens noch fünf bis zehn Millionen Menschen in Europa und es ist abzusehen, wann auch das vorbei ist. In Amerika sieht es nicht anders aus, in der dritten Welt ist es überall noch schlimmer.”

Paul hörte aufmerksam zu. Wenn er die kurze Vorlesung richtig verstand, hatte sich die Zivilisation selbst in den Dreck geritten. Nun, an Mahnern hatte es nicht gefehlt, daran erinnerte er sich. Aber es sollte alles immer größer, immer schneller, immer höher sein. Er erinnerte sich dunkel daran, dass sogar interstellare Raumflüge geplant waren. Er hatte sich, wenn ihm da nicht Traum und Wirklichkeit durcheinander gerieten, sogar dafür interessiert.

“Wieso sind wir dann hier?” fragte er dann.

“Wir haben dafür geworben, in einem abgelegenen Gebiet neu und bescheiden anzufangen, ohne große Technik, aber mit einer effektiven Organisation und einem angepassten Know-how”, erklärte Sergeij. “Ver­gebens, alle hofften auf ein Ende der Katastrophe, um dann weiterzumachen wie bisher. Der Mensch ist unbelehrbar. Kaum jemand hatte Interesse daran, im Einklang mit den kosmischen Kräften zu leben. Wir sind dann hier in den Himalaja gezogen, um neu anzufangen. Wer mitkommen wollte, konnte das tun, aber es waren nur wenige, wie du siehst. Du warst und bist dabei. Den Kontakt zur alten Welt haben wir abgebrochen.”

“Drei Fragen habe ich noch: Wieso sind keine Kinder an Bord?” - Er sah, wie Sergeij zusammenzuckte. “Habe ich da an etwas Trauriges gerührt? Wenn ja, entschuldige bitte, ich bin halt nicht ich selbst, wie es scheint. Die zweite Frage bezieht sich auf die Stadt Negs: Wieso haben wir Streit mit denen? Warum leben die da oben in der Wüste und wir hier im Wald? Und die dritte Frage: Wie lange sind wir denn schon hier?”

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Diesmal erklärte Hermfried. “Also mit den Kindern, das ist wirklich etwas Trauriges. In diesen Wirren ist ein Genexperiment außer Kontrolle geraten. Ein verän­derter Ebolavirus ist aus einem Hochsicherheitslabor freigesetzt worden. Dieser hat ganz gezielt Kinder und Heranwachsende befallen. Da auch das Gesundheitssystem völlig zusammengebrochen war, gab es für sie keine Rettung. Mit Negs gibt es ein kulturelles Problem. Das ist eine mittel­alterliche Gesellschaftsform, wie du ja auch schon gesehen hast. Sie haben sich geweigert, uns in ihrer Nähe zu akzeptieren, für uns war kein Platz in Ihrer Herberge, um die Bibel zu zitieren. Die kommen übrigens aufgrund irgendwelcher religiöser Tabus nicht in den Wald, deren landwirtschaftlich genutzte Flächen liegen auf der anderen Seite der Stadt in einer Art Flussoase. Und zu deiner dritten Frage: Wir sind jetzt seit fast zwei Jahren hier. Es geht uns eigentlich gut, aber unsere Gemeinschaft wird vergreisen, wenn das so weitergeht.”

Paul bekam einen schweren Kopf. Er erinnerte sich an nichts von dem, was ihm erzählt wurde. Einiges kam ihm auch nicht recht logisch vor. Sicher schien ihm, dass die unbelehrbare Arroganz der technisch-industriellen Elite eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes zur Folge hatte und er jetzt mit ein paar anderen Ökos hier in dieser abgeschiedenen Idylle lebte und den Rest der Welt die Früchte der Dummheit ernten ließ.

Immerhin war ihm jetzt der Grund für das Sicherheitssystem klar, man hatte hier Angst vor einem Angriff aus der Stadt, wo die meisten offenkundig etwas gegen Fremde hatte. Er war denen wohl - warum auch immer - in die Hände gefallen und sie hatten versucht, Informationen von ihm zu erhalten. Spuren einer körperlichen Folter hatte er nicht an sich entdeckt, die machten das wohl sehr gründlich mit Drogen. Wie zum Teufel war er aber in diese Kiste gekommen? Wieso hatten sich die Bewohner nicht an der Jagd auf ihn beteiligt? Die Frau hatte ihm sogar geholfen! Und die beiden Männer auch. Das passte alles zusammen wie eine Rohrzange zum Uhrmacher.

Die Gesellschaft in Negs war wohl nicht so einheitlich, wie es von außen aussah.

Die anderen hatten seine Verwirrung bemerkt.

“Das war wohl eine Menge auf einmal”, meinte Sergeij. “Wir haben hier einen Tee, der wirkt beruhigend. Du solltest jetzt noch einmal viel schlafen, ab morgen kannst du dich dann irgendwo nützlich machen, wenn du willst. Das könnte dich auf andere Gedanken bringen.”

Hermfried schob ihm eine Tasse mit einem süßlich riechenden Getränk herüber. “Trink ruhig. Das schadet nicht, wir haben es oft genug selbst getrunken, wenn wir Schlafstörungen hatten. Am Anfang unseres Aufenthalts ist das häufig vorgekommen, Alpträume, Angstzustände und ähnliche Sachen. Keine bekannten Nebenwirkungen.”

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Nachdem er ausgetrunken hatte, begleitete Andra ihn zu Monas Haus. Zu seiner schon leicht benebelten Freude war Mona zu Hause. Als sie ihn in Empfang nahm, meinte er einen leicht bissigen Ton in der kurzen Unterhaltung der beiden Frauen zu hören. Er meinte zu hören wie Andra fragte, warum sie es ihm nicht sagen sollten. Wem? Was? Mona erzählte etwas von Sumsi und Helsbergis, die weg seien und irgendjemand sei der einzige und unersetzlich. Er wünschte sich, er sei unersetzlich, aber er war wohl nur ein Klotz am Bein.

Er merkte kaum, wie er ins Schlafzimmer kam, dann fiel er in einen langen erholsamen Schlaf.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er das Gefühl, einen Alptraum nach dem anderen gehabt zu haben. Interstellare Raumschiffe waren in riesige Fabrikanlagen gestürzt. Aus der Explosion erschien eine gewaltige Figur aus feurigem Rauch, die rief: “Haltet ein, kehrt um, seid demütig und wachsam.” Dann verwandelte sich die Figur in Sergeij, der auf einer Rakete zwischen den Sternen herumritt, um schließlich in einem Funkenregen auf die Wüste niederzustürzen.

Er ging zu Mona, die wieder in der Küche beim Frühstück saß.

“Na, gut geschlafen?”

Er schüttelte den Kopf. “Der Tee scheint nicht gewirkt zu haben, vielleicht hätte ich besser einen Eimer voll getrunken. Ich habe mir übrigens den Vorschlag von Sergeij durch den Kopf gehen lassen und möchte hier irgendwo arbeiten. Da komme ich hoffentlich ein wenig zur Ruhe.”

Nach dem Frühstück ließ er sich von Sergeij und Andra zur Arbeit einteilen. Er wurde auf die Lichtung geschickt, die sie gestern zuerst besucht hatten. Das Pflügen und Düngen wurde ohne maschinelle Hilfe durchgeführt. Die einfachen Maschinen wurden von riesigen, aber sehr friedlichen Rindern gezogen.

Die Tiere setzten ihn in Erstaunen. Es waren Rinder, keine Frage; genauso sicher war es allerdings auch, dass er solche Tiere noch nie gesehen hatte, weder in der Natur noch in Büchern. Yaks, wie sie in dieser Gegend eigentlich leben sollten, waren es auf jeden Fall nicht, obwohl sie auch zottig waren. Die Tiere hier waren größer, die Schulterhöhe betrug mindestens zwei Meter, der Kopf mit den breiten, mächtigen Hörnern war hoch erhoben. Genauso überraschend war dieser treue, verständige, geradezu intelligente Ausdruck in ihren Augen und das freund­liche Verhalten, das in einem fast schon grotesken Gegensatz zu den gewaltigen Ausmaßen dieser Tiere stand.

Er kam gut mit den zwei Tieren zurecht, mit denen er arbeitete. Sie hatten die Aufgabe, die zwischen den Kohlreihen wachsenden Wildkräuter mit einem großen harken­ähnlichen Gerät zu lockern und möglichst aus dem lockeren, dunklen Boden auszureißen. Andra hatte ihm erzählt, dass man bei einer Wiederholung dieser Art ökologischer Boden­bearbeitung alle drei Wochen die Ertragseinbußen durch Wachstumskonkurrenz auf ein Minimum beschrän­ken konnte, ohne auf Herbizide angewiesen zu sein. Die Arbeit war eintönig, aber mit diesen kraftvollen Helfern nicht allzu anstrengend. Und bei dem Geruch nach feuchter Erde und Kuhstall dachte er an eine ferne Vergangenheit, die er fühlte, die aber nicht zu seinem Verstand vordrang.

Im Wald << Seite 17 >>

Mittags aß er mit den anderen acht Leuten in einem kleinen Aufenthaltsraum nahe beim Hühnerstall. Man unterhielt sich über belanglose Dinge, das Wetter, die Arbeit und das Gedeihen der Pflanzen. Die Führung hatte ihnen anscheinend die Anweisung gegeben, so zu tun, als sei er nie fortgewesen. Nach dem Essen machte er im Gras einen kleine Mittags­schlaf; er war müde, da er die Arbeit nicht mehr gewöhnt war. Die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel, aber hier am Rand des Waldes waren die Temperaturen erträglicher als in der Wüste. Die Luft flirrte über den Feldern, er sah Schwalben mit akrobatischen Wendungen durch die Luft jagen. Hummeln brummten um ihn herum, um die duftenden gelben Blüten in seiner Nähe zu besuchen. Eine grün glitzernde Eidechse schlängelte sich durchs Gras, hinter ihm raschelten Mäuse durchs Laub. Alles war friedlich, er fühlte sich richtig wohl und geborgen und schlief unter einem Baum ein.

Der Nachmittag verlief wie der Vormittag, und die folgenden Tage verliefen wie dieser Tag. Die Abende waren kurz, weil er seine Müdigkeit nicht abschütteln konnte, irgendwie war sein Zeitgefühl aus dem Takt geraten. Mit Mona unterhielt er sich nicht sehr oft. Sie kam auch erst spät von ihrer Arbeit zurück und war entsprechend müde. Die Gespräche handelten meist vom Wachstum auf den Feldern. Wenn sie auf frühere Zeiten zu sprechen kamen, endeten die Gespräche für ihn stets enttäuschend, da er in der Erforschung seiner Vergangenheit nicht vorankam. Langsam befürchtete er, dass sich sein Gedächtnis für immer verabschiedet hatte und er den Rest seines Lebens als geschichtsloses Wesen verbringen müsse.

Monas Verschlossenheit nervte ihn. Immer zog sie sich bei seinen Fragen auf Sergeijs Anweisung zurück, möglichst wenig zu erzählen. Der Mann wurde ihm langsam unsympathisch in seiner schon fast diktatorischen Art. Oft hatte er das Gefühl, ihn auch vor seinem Gedächtnisverlust schon nicht gemocht zu haben. Um ihn herum waren zu allem Überfluss stets einige junge Burschen, die arrogant wirkten und gelegentlich die Bewohner des Dorfes anraunzten. Manchmal schien es ihm sogar, dass sie ihn beobachteten, unauffällig natürlich.

Die Beobachtung, dass Gefühle bestimmten Leuten gegenüber scheinbar ohne Grund hochkamen, machte er mittlerweile sehr oft, wobei er meist positive Gefühle empfand.

Probleme machten ihm seine mangelhafte Erinnerung an bestimmte Fakten. Er war an Tieren und Pflanzen interessiert gewesen und konnte nicht verstehen, dass die Buchen hier im Wald nicht genau mit denen in seinem Gedächtnis überein­stimmten. Und dann die Rinder. Am ehesten ähnelten sie einer Kreuzung zwischen Schottischem Hochlandvieh und Kaffernbüffeln in der Größe eines Nashorns, eine solch enorme Züchtung hätte ihm eigentlich bekannt sein müssen. Die Halluzinogenbehandlung schien wirklich erfolgreich gewesen zu sein.

Die Tage und Wochen flossen dahin wie ein ruhiger, sanft geschwungener Fluss in einer weiten Ebene.

Paul kam nur mit relativ wenigen Leuten in engeren Kontakt und er begann sich damit abzufinden, mit diesen freundlichen, aber unbekannt-bekannten Menschen zusammenzuleben.

Dann aber kam der Tag, an dem aus der Richtung des Wachtpostenbaumes ein Alarmsignal ertönte.

Ab 22jul10: 626 Bes.