I - Kapitel 4
12.Jul.25 .. 05:22 Uhr
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Orte, Personen

Hilfe, Technik

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Nach drei Stunden Wanderung fand er eine Bodensenke, nicht größer als ein großer Garten um ein Einfamilienhaus, aber es ging mehr als zehn Meter in die Tiefe. Immerhin wuchsen einige anspruchslose Büsche in dieser Minioase. Er kletterte hinunter und legte sich in den bescheidenen Schatten. Der Schnitt an seinem Oberarm belästigte ihn weniger, schlimmer war da schon die Wunde an seinem Ohr. Das Pochen im Kopf hatte in den letzten Minuten zugenommen, deshalb war er dankbar für die unverhoffte Möglichkeit zur Rast.

Als er vorsichtig den Verband an seinem Kopf berührte, bemerkte er, dass Andra unter den Resten seines Unterhemds ein Polster angebracht hatte. Er zog vorsichtig etwas von diesem Polster heraus und stellte fest, dass es eine Mischung aus Moos und Flechten war, die offenbar zur Stillung der Blutung diente und eine Entzündung verhindern sollte. 'Altes Rezept der Amazonasindianer, vermutlich', dachte er mit einem gequälten Lächeln.

Dann überlegte er, dass er mit dieser Wunde in der alten Welt bereits bestens versorgt wäre und sich weder um Infektionen noch um Kopf­schmerzen Gedanken machen müßte. Die technische Zivilisation hatte ihre wirklich bedrohlichen Begleiterscheinungen gehabt, aber die medizinische Ver­sor­gung war eindeutig besser gewesen als hier im Himalaja. Möglicher­weise hätten auch die beiden Opfer des Angriffs aus der Stadt überleben können, wenn eine bessere Technik zur Verfügung gestanden hätte.

Er fiel in einen unruhigen Schlaf. Wieder einmal trieben wirre Träume durch seinen Schlaf. Wieder einmal sah er Explosionen, diesmal in einem großen Gebäude, einer Fabrik vielleicht. Enge Gänge, Rohre liefen unter den niedrigen Decken, die er mit anderen entlanglief. Dann eine Art Erdbeben, Lärm, Schreie, dann wurde alles schwarz.

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Schweißgebadet erwachte er. Die Sonne stand schon tief, wie er erstaunt feststellte. Er war erholt, die Schmerzen in seinem Kopf hatten etwas nachgelassen, das Moos oder Andras bittere Medizin hatte gewirkt. Er richtete sich vorsichtig auf in Erwartung eines heftigen Schmerzes im Kopf, im Arm oder sonstwo, aber nichts geschah. Es war also wohl doch der Zaubertrank, der gewirkt hatte.

Langsam kletterte er aus der Senke heraus und blickte Richtung Stadt. Im Licht der untergehenden Sonne sah Negs eigentlich ganz nett und einladend aus, aber vielleicht war auch das nur eine Folge des Betäubungsmittels. Er dachte an Andras Worte, dass alles nur Fassade sei. Ergreifende Weisheit; schließlich war das ganze Leben eine Fassade, jeder trug nur das Bild seiner selbst mit sich herum und versuchte die anderen Menschen davon zu überzeugen, dass man diesem Bild auch entsprach. Die Stadt hatte er, soweit sein Gedächtnis zurückreichte, ebenfalls nur als eine Fassade kennengelernt; weiße, abweisende Häuserfassaden und ebensolche Menschen. Er musste nun hinter diese Äußerlichkeiten schauen, wenn er überleben wollte.

Er war ganz froh, dass er den größten Teil des Tages verschlafen hatte, schließlich hätte er in der Hitze des Tages einen noch längeren Marsch durch die Wüste nicht lange durchhalten können. Jetzt galt es aber, das langsam schwächer werdende Tageslicht auszunutzen, um die Stelle wiederzufinden, von der aus er seinen Weg in den Wald angetreten hatte. Ein Blick in den wolkenlosen Himmel ließ ihn fürchten, dass die Nacht klirrend kalt werden könnte; nur mit Hemd und Hose bekleidet könnte auch das ein Problem werden.

Er griff in den Rucksack, nahm sich ein Brot heraus und trank einige Schluck Wasser, dann macht er sich auf den Weg.

Zwei Stunden später war die Sonne bereits untergegangen, es war eine klare, aber mondlose Nacht. Er begann, müde zu werden, die pochenden Schmerzen im Kopf wurden wieder schlimmer und er hatte das Gefühl, dass er Fieber bekam. Dafür war er aber schon ziemlich nah an die Stadt herangekommen und versuchte sich nun zu erinnern, wo er aus dem Fenster gestiegen war.

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Der Rand der Stadt bestand aus einer Häuserreihe, die durch keine Lücke unterbrochen war. Die Bewohner hatten offenbar nicht das Bedürfnis, ihre Stadt in dieser Richtung zu verlassen. Einen wirklich wirksamen Schutz, zum Beispiel gegen Angriffe von außen, bot diese Stadtmauer aber nicht, da die Unterkante vieler Fenster kaum mehr als einen Meter über dem Boden lag.

Er war zunächst bewußt nicht in die Richtung gegangen, in der er die Wohnung der beiden Männer vermutete. Immerhin war es nicht unwahr­scheinlich, dass man die Wüste wegen eventueller Angriffe aus dem Wald beobachtete und ein unerwünschtes Empfangs­komitee für ihn bereitstellte, wenn man ihn entdeckte. Dann war er eine Zeitlang dicht an den Häusern entlang ­gegangen, die Fenster saßen aber so gleichmäßig in den Mauern, dass er die Hoffnung, die Wohnung der beiden Männer zu finden, schon aufgeben wollte. Weil er die Stelle seiner Flucht auf diese Art nicht finden konnte, entfernte er sich wieder ein paar hundert Meter von der Außenmauer, setzte sich auf den Boden und schaute auf die Stadt. Er versuchte sich das Bild in Erinnerung zu rufen, das er beim Verlassen der Stadt gesehen hatte, irgendwelche kleinen Besonderheiten in der Silhouette der Stadt. Nach kurzer Zeit stand er entschlossen wieder auf und ging auf ein bestimmtes Fenster zu. Vorsichtig schaute er durch die Ritzen in den Fensterläden und sah im Zimmer eine Frau mit zwei etwa zehnjährigen Kindern; Fehlanzeige. Er versuchte es zwei Fenster weiter rechts, wieder nichts. Dann ging er nach links und sah in ein Fenster, aus dem ein schwacher Lichtschein fiel.

Am Tisch saßen die gesuchten Männer und wieder standen drei Teetassen auf dem Tisch. Paul wollte schon an Wunder glauben, sie hatten ihn anscheinend schon erwartet, wie damals. Dann trat jedoch eine Frau ins Zimmer, die sich von den beiden verabschiedete und aus dem Haus ging. Er duckte sich unter das Fenster. Nach einer Minute ungeduldigen Wartens schaute er noch einmal ins Zimmer. Die beiden saßen am Tisch und diskutierten angestrengt über irgend etwas, aber sie waren jetzt allein.

Er klopfte leise an den Fensterladen. Die beiden Männer sprangen wie elektrisiert auf und starrten in einer Mischung aus kurzem Erschrecken und gespannter Aufmerksamkeit in seine Richtung. Nach einem kurzen Wortwechsel kam der größere der beiden ans Fenster und öffnete.

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Paul sah ihn an, er sah Paul an. Dann erkannte er, wessen Kopf sich unter dem ­Verband verbarg und in welchem Zustand Paul war. Er rief ein paar Worte nach hinten, dann zogen die beiden Paul ins Zimmer und legten ihn auf den Boden. Nach kurzer Zeit wurde er in das obere Stockwerk gebracht und auf ein Bett gelegt. Es ähnelte auf erstaunliche Weise dem im Dorf draußen im Wald, eine Strohmatraze mit einer Fellauflage, nur gab es hier eine Woll­decke. Er war erschöpft, die Wirkung des Betäubungsmittels wurde schwä­cher, das Fieber schien zu steigen und die Tatsache, dass er sein erstes Ziel erreicht hatte, ließ seinen Willen erlahmen, Erklärungen für sein Erscheinen abzugeben. Andererseits konnte er seine Helfer nicht ohne einige erhellenden Worte dastehen lassen und einfach einschlafen. Er wollte in seinen Rucksack nach der Flasche mit der Medizin greifen, als er hart am Handgelenk gepackt wurde. Die beiden durchsuchten den Rucksack, fanden die Flasche, öffneten sie, rochen daran und wiegten dann mit gerunzelter Stirn den Kopf hin und her. Schließlich bekam er aber doch einen kleinen Schluck, der ihn zumindest wieder etwas klarer denken ließ.

“Vielen Dank, dass ihr mich hereingeholt habt”, sagte Paul.

Die Männer schauten sich bedauernd an und zuckten mit den Schultern. Paul griff sich an den Kopf, als ihm auffiel, dass er in seinem tauben Zustand wahr­haftig deutsch mit den beiden geredet hatte. Er wiederholte seinen Dank auf englisch, worauf sich die Miene der beiden aufhellte.

“Sprache wiedergefunden?”

“Wieso verletzt am Kopf und am Arm?”

Er versuchte kurz zu schildern, wie er an die Verletzungen gekommen war.

Sie verließen das Zimmer und kamen nach kurzer Zeit mit frischen Verbands­zeug wieder. Der kleinere der beiden legte ihm einen neuen Verband am Arm an und strich eine fette Salbe auf die Wunde. Dann besahen sie sich die Wunde am Kopf und sagten nur kurz: “Nähen.”

Paul erschrak etwas, aber er bekam einen weiteren Schluck Medizin, diesmal aus der hauseigenen Apotheke. Sehr schnell wurde er müde, seine Gedanken bewegten sich zunächst im Schildkröten­tempo, dann im Schneckentempo, so als hätte er sich inner­halb einer halben Minute völlig besoffen. Schließlich schlief er ein.

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Diesmal träumte er von Jonas, der sich mit diabolischem Grinsen aus seinem Grab erhob und mit einem Schwert und einem mittelalterlichen Morgenstern auf ihn zustürzte. Dann bewegten sich zwei alten Herren kreisend auf ihn zu, in der Hand eine meterlange Nadel, durch deren Öse ein dickes Tau gezogen war.

Am nächsten Tag erwachte er gegen Mittag. Er erhob sich mit schmer­zendem und heißem Kopf. Er versuchte, die Treppe herunterzukommen, was ihm zu dreivierteln gehend, im letzten Viertel nur rollend gelang. Die Frau, die er gestern schon gesehen hatte, kam aus dem Zimmer gelaufen, half ihm wieder auf die Beine und dann ins Bett. Dort bekam er wieder von dem Zaubertrank und fiel schnell in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

An die nächsten beiden Tage hatte er nur eine schwache Erinnerung. Schlafen, Fieberträume, Verbandwechseln, Schlafen, Fieber.

Am Abend des zweiten Tages erwachte er und fühlte sich wohl. Wieder stand er auf, diesmal endete der Versuch, die Treppe zu bewältigen, mit einem grandiosen Erfolg, er schaffte es ohne zu fallen.

Er trat ins Zimmer, wo die Männer auf ihn zu warten schienen.

“Wir haben dich auf der Treppe gehört. Wieder gesund?”

“Ich fühle mich wohl, vielen Dank. Ich bin Paul, aber ihr scheint mich ja zu kennen. Ich weiß aber nicht einmal, bei wem ich mich für meine Rettung zu bedanken habe.”

“Herg“, stellte sich der kleinere vor, dann zeigte er auf den anderen: “Dagolesian. Eigentlich müßtest du uns kennen, aber du hast die Überdosis wohl noch im Kopf.”

“Erinnerst du dich an nichts?” fuhr Herg fort. „Weißt du nicht einmal mehr, wo du und deine Freunde herkommen? Und woher die anderen kommen, die hier in Negs sind?”

“Doch. Wir kommen aus Europa. Dort hat es eine ökologische Katastrophe gegeben, deshalb sind wir hier. Wir haben so eine Art Asyl gesucht, aber ihr wolltet uns nicht.” Paul zögerte. “Das haben mir jedenfalls meine Freunde oder Feinde im Dorf erzählt.”

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Die beiden waren jetzt an der Reihe, erstaunt zu schauen. Herg gewann als erster die Fassung zurück.

“Das verstehen wir aber nicht. Uns habt ihr erzählt - du auch! - dass ihr aus dem Norden kommt und uns das Licht der Erkenntnis bringt. Ist Europa deine Heimat im Norden? Oder habt ihr uns da belogen?”

Dagolesian ergänzte, um seine Frage zu beantworten: “Die anderen von euch sind die, die etwas anders aussehen, die Eidechsen.”

Paul schwirrte der Kopf. Das mit der Kultur schien ihm völliger Irrsinn zu sein. Sie hatten wohl wie es schien ihren Auszug aus dem versinkenden Europa mit großer Geste verbrämen wollen. Albern, das. Eine andere Welt, das war Europa ja wirklich gewesen, wenn man es mit dieser beschaulichen, mittelalterlich wirkenden Stadt verglich.

Aber es war doch einfach undenkbar, dass sich eine Gruppe dumpfer Fanatiker im Himalaja eine Stadt aneignen könnte, ohne dass der Rest der Welt etwas davon erfahren würde. Das mit den Eidechsen schien ihm ein weiterer Hinweis auf die Richtigkeit seiner These: ein Teil der Leute, die mit ihnen hier in die Berge geflohen waren, schienen ernste Hautveränderungen aufzuweisen, seine Beobachtung im Wald war wohl richtig gewesen. Was allerdings dieser lächerliche mittelalter­liche Mummenschanz mit den Uniformen bezwecken sollte, war ihm immer noch schleierhaft.

Er versuchte Herg und Dagolesian seine Gedankengänge zu erläutern und schloß: “Ich denke, dass die - wir - euch da eine schöne Geschichte erzählt haben, die nichts mit der Wahrheit zu tun hat. Ihr müsstet doch eigentlich wissen, dass die technologische Zivilisation der alten Welt zusammengebrochen ist.”

Sie schüttelten den Kopf. Das machte ihn wieder stutzig. Die beiden sahen wirklich nicht so aus, als seien es dumme Wilde, die nur in ihrem Dorf lebten. Immerhin sprachen sie ein ganz passables Englisch. Eine Katastrophe wie der Zusammenbruch der industriellen Kultur müßte sich bis hier herumgesprochen haben. Keine Geschichte gab einen Sinn, keine konnte wahr sein. Irgendwo in ihm war die richtige Geschichte, aber wie verschüttet war sie? Wahrheitsgetränk nannten die das, was man ihm gegeben hatte! Das schien ja etwas wahrhaft Wirksames zu sein.

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“Habt ihr denn keine Verbindung zum Rest der Welt? Wo ist denn die nächste Stadt?”

“Etwa 200 Dreb zur untergehenden Sonne hin liegt Sera. Das ist weit, deshalb gibt es nur selten Verbindung. Etwa ein bis zweimal im Jahr reist eine Gruppe dorthin. Es ist ziemlich gefährlich, zwischen Negs und Sera gibt es außer in der Reisezeit nur Wüste. Einmal im Jahr fahren wir über den Fluss nach Nök. Zu anderen Städten gibt es noch seltener Kontakt.”

Das war eine präzise Angabe, 200 Kilometer ist auch in einer solchen Gegend mit einem Jeep eine Reise von vielleicht 2 Tagen. Aber deshalb musste man sich doch nicht nur alle zwei Jahre um die Nachbarn kümmern. Dann fragte er nach.

“Ist ein Dreb ein Kilometer? Und wie legt ihr die Strecke zurück? Mit dem Jeep, oder habt ihr andere Autos?”

Herg und Dagolesian sahen sich wieder verwundert an.

“Ein Dreb ist ungefähr das tausendfache deiner Körperlänge, weißt du das auch nicht mehr? Und was ist ein Auto?”

Die kannten kein Auto?! Sicher hatte er das falsche Wort gewählt. Und nicht zweihundert, sondern eher vierhundert Kilometer! Paul versuchte, sich den Globus in Erinnerung zu rufen, um eine Stelle zu finden, an der sich in einem Kreis mit einem Durchmesser von ungefähr 800 Kilometern nur eine Stadt befand. Und das in der Wüste. Es gab keine solche Stelle, dessen war er sich beinahe sicher. Die Sahara war das hier nicht, da gab es keine Wälder wie hier. Da blieb nur das asiatische Hochland, also Tibet, Mongolei oder Nordwestchina. Aber Herg und Dagolesian! Keine Tibeter, keine Chinesen, das hätte man ja an den Augen erkennen müssen. Nichts stimmte, nichts passte zusammen, es war zum Verzweifeln.

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Dann fiel ihm ein, dass er noch eine Botschaft überbringen sollte.

“Ich habe euch ja kurz erzählt, dass unsere Sicherheitschefin mir bei der Flucht aus dem Wald geholfen hat. Sie hat mir aufgetragen, euch zu sagen, dass sie mit einigen anderen nachkommen will, mit friedlichen Absichten, wie sie ausdrücklich betonte.”

Dagolesian erzählt weiter, wirre Geschichten von Frauen und Männern, von Explosionen, die Paul bewirkt hatte, von landwirtschaftlicher Tätigkeit, von einem Streit, von Menschen im Wald und anderen Menschen in der Stadt, die sie Eidechsen nannten wegen ihrer Haut.

Paul selbst hatte sich nach einer Flucht aus dem Wald - schon einmal dasselbe? - mit der Hilfe von Freunden aus Negs am Fluß verbergen können. Er war später von den Eidechsen gefangen genommen worden, nachdem er sich aus seinem Versteck am Fluß gewagt hatte und war von ihnen verhört worden.

“Aber die haben keine Erfahrung im Umgang mit Wahrheitsgetränk, und sie haben dich damit fast umgebracht. Wie du fliehen konntest, wissen wir nicht. Wir haben dir lediglich den Ausgang gewiesen, als du kamst; es wäre uns und dir schlecht bekommen, wenn wir dich hierbehalten hätten. Du hast da übrigens auch in einer komischen Sprache gesprochen, genau wie vor zwei Tagen, als du hier ankamst.”

“Nach dem, was ihr erzählt, müßtet ihr uns doch eigentlich verab­scheuen. Wieso lebe ich noch? Und wieso geht ihr nicht einfach in den Wald und jagt uns zum Teufel?”

“Wir dürfen nicht in den Wald, unsere Oberste Instanz verbietet das. Die Eidechsen wollen auch nicht.”

Herg fuhr fort: “Es gibt sicher viele in der Stadt, die euch töten wollen. Auch du solltest nicht so einfach durch die Stadt gehen, ein Messer ist schnell und genau geworfen. Die meisten wissen aber, dass nicht alle Vogelmenschen schlecht sind.”

“Wieso nennst du uns Vogelmenschen?”

“Ihr habt immer erzählt, dass ihr in einem großen Vogel gekommen seid, den ihr uns aber nie gezeigt habt.”

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War das möglich? Die kannten kein Auto, kein Flugzeug, das war eine wirklich beneidenswert unverfälschte Kultur. Für gefühlsbetonte Menschen wie Mona war das sicher ein Fest: der edle und einfältige Wilde. Aber nichts ergab eine sinnvolle Geschichte, die mit seiner bruchstückhaften Erinnerung zusammenging.

“Paul, wir werden noch viel Zeit haben, zu reden. Aber du kannst nicht hier­bleiben. Wir bringen dich zunächst in das Innere der Stadt, tief nach unten, da trauen sich die Eidechsen nicht hin. Später bringen wir dich an den Fluß, wo du schon mal gewesen bist. Dort kannst du auch länger bleiben.”

Paul stützte den Kopf in die Hand und versuchte, die für ihn neuen Dinge zu verarbeiten. Er sah sich im Raum um, ob ihn irgend etwas an die Zeit vor seinem Gedächtnisverlust erinnerte. Die Wände waren zwar nur roh verputzt und mit weißer Kalkfarbe gestrichen, aber einige Gemälde nahmen dem Raum viel von seiner sonst eher kühlen Atmosphäre. Es waren meist abstrakte Werke, die in dunkelroten und braunen Tönen gehalten waren. Zwei gegen­ständliche Bilder, die wie die anderen von erstaunlicher Kunstfertigkeit im Umgang mit Farben und Proportionen waren, befanden sich auch darunter. Eines der Bilder zeigte die Stadt Negs im romantisierenden Licht der unter­gehen­den Sonne, so wie er sie vor wenigen Tagen bei der Rückkehr gesehen hatte. Das andere weckte angenehme Gefühle in ihm. Von einer Anhöhe blickte man in eine grüne Flußoase. Der Fluß kam aus einem Gebiet mit verblüffend regelmäßigem Baumbestand, schlängelte sich durch ein enges, felsiges Tal, dann begannen kleine Wälder, Wiesen und Weiden, hohe Bäume säumten seine Ufer, ein Flecken­teppich an Feldern war zu sehen, einige kleine Dörfer und Gehöfte verloren sich zwischen dem Grün, schließ­lich verlor sich der Fluß im fernen Dunst der Wüste.

“Ich bin sicher, dass ich schon einmal da war.”

Herg nickte. “Da sollst du auch wieder hin. Du hast da eine ganze Zeit unerkannt als Bauer gearbeitet. Da du uns Negsern recht ähnlich siehst, war es leicht, dich unter den weiten Gewändern und Kopftüchern der Bauern zu verstecken.”

“Zuerst geht es aber nach drinnen, Kleidung, Haare, und ein paar Informationen für die Leute, die dich runterbringen”, sagte Dagolesian. “Du wirst schon erwartet. Komm.”

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Er fragte sich, wie sie ungesehen über die Straße kommen sollte. Er hatte das Gefühl, sich unter den Negsern unauffällig wie ein kariertes Zebra bewegen zu können. Zu seiner Überraschung gingen sie aber nicht auf die Straße, sondern in den Keller des Hauses. Dort passierten sie zwei Kellerräume, dann eine Tür, die in einen langen, dunklen Gang führte. Herg entzündete eine kleine Laterne, die mit Petroleum oder etwas ähnlichen gefüllt war; sie warf ein schwaches, aber für den Ortskundigen ausreichendes Licht.

Paul durchschaute seine Situation weniger denn je. Trotzdem hatte er in dieser etwas gruseligen Umgebung das Gefühl, den beiden Männern vollständig vertrauen zu können, ganz anders als vor wenigen Tagen, als er von Jonas in den Wald geführt werden sollte.

Es wurde kühl. Nach kurzer Zeit schon ging es eine Etage weiter nach unten, hin und wieder zweigten Gänge von dem ab, den sie benutzten. Mehrfach und unregelmäßig änderte sich die Richtung des Gangs, selten liefen Rohrleitungen unterschiedlicher Dicke quer zum Gang oder auch in Richtung des Ganges. Er fragte sich, wie die beiden es schafften, die Orientierung zu behalten, sie gingen sicher ihres Weges, Treppen hinunter, Treppen hinauf, Gänge nach links, nach rechts.

Es hatte das Gefühl, dass schon mehr als eine Stunde vergangen war, als der Gang breiter wurde. Viele Gänge zweigten jetzt nach beiden Seiten ab, schließlich stan­den sie in einem Raum von einiger Größe. Paul schätzte, dass er mindestens hundert Quadratmeter groß war, so wie drei oder vier Wohn­zimmer.

Von weit oben schien durch einen langen, weißgetünchten Schacht ein wenig Tageslicht herein. Der Raum war kühl wie die Gänge, durch die sie gekommen waren. Er war gefüllt mit Säcken und Kisten, in denen er Gemüse und Obst erkennen konnte, hier war also ein Vorratslager.

Sie wurden von zwei Frauen und einem Mann begrüßt und gebeten, am Tisch in der Ecke des Raum Platz zu nehmen. Bei näherem Hinsehen erkannt Paul die eine der beiden Frauen, es war diejenige, die ihm bei der Flucht vor den Soldaten entgegengekommen war und diese in die Irre geführt hatte.

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“Ich stehe in ihrer Schuld. Ich danke ihnen”, sagte er zu ihr.

Sie lächelte nur.

“War nötig”, erwiderte sie.

Die andere Frau war diejenige, die er schon bei seinen beiden Beschützern gesehen hatte.

Dagolesian stellte sie vor.

“Dalge, Hergs Partnerin, kennst du ja schon. Die beiden anderen sind Eld und Roguli; du erinnerst dich ja zumindest an Eld, Roguli ist ihr Partner.”

Diese Information erfüllte Paul schon fast mit Bedauern, andererseits war ihm der mittelgrosse, ziemlich dicke, ungemein breitschultrige Mann sympathisch. Er bemerkte, dass dieses Gefühl von Sympathie das einzige war, was ihm bei der Einordnung von Menschen zu helfen, da er keine bewußten Erinnerungen mit irgend jemandem verbinden konnte. Er entschloß sich daher, diesem Instinkt bezüglich anderer Menschen solange zu folgen, bis seine Erinnerung wiederkehrte.

Sie setzten sich zu einem Tee. Die fünf Negser unterhielten sich schnell und leise in ihrer Sprache, so dass er nicht zuhörte und sich im Raum umsehen konnte. Dieser düstere, kühle Raum, die Gänge. Plötzlich hatte er wieder die Bilder vor Augen, die ihm auf dem Weg in Stadt im Traum erschienen waren: Fluchten durch Gänge wie diese, Erdbeben, Explosionen, Schreie.

“Entschuldigt bitte”, unterbrach er das Gespräch, “bin ich schon einmal hier durchgelaufen, auf der Flucht vor jemandem? Hat es hier schon einmal ein Erdbeben oder eine Explosion gegeben?”

Herg sah ihn an, überlegte, dann schüttelte er nach Rücksprache mit den anderen den Kopf.

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“Eine Explosion hat es nur gegeben, kurz bevor ihr hier hergekommen seid. Es war eine Explosion im Talwald, wo deine Freunde sind.”

“Ich weiß nicht, ob meine Freunde nicht eher hier in Negs sind”, erwiderte er halb nachdenklich, halb verbittert. Dann dachte er über die Explosion im Wald vor ihrem Erscheinen nach. Vogelmenschen, Explosion, dann das Festsitzen hier in der Wüste! Sie waren mit einem Flugzeug aus Europa geflohen und hatten dann hier eine blitzsaubere Bruchlandung hingelegt, so muss es gewesen sein. Er erinnerte sich zwar wie schon üblich an nichts Konkretes, aber das wäre zumindest ein vernünftiges Erklärungsmodell, auch für seine Albträume.

Die anderen hatten ihre Beratungen abgeschlossen. Sie gingen aus dem Raum, eine Treppe hinauf und kamen in eine Kleiderkammer. Dort wurde er mit der landesüblichen Kleidung ausgestattet und etwas braun geschminkt. Die Kleider kamen ihm bekannt vor. Sie ähnelten denen, mit denen er geflohen war, nachdem er wie Kai aus der Kiste gestiegen war und sein jetziges Leben begonnen hatte.

Sie verließen die Kleiderkammer, gingen nach rechts durch eine Tür und standen unvermittelt in einem kleinen Innenhof. Während er in die Sonne blinzelte, freute sich Paul, dass er nun wieder wußte, auf welcher Ebene von Negs er sich befand.

In der Mitte des Hofs stand inmitten eines gepflegten Rasenstücks ein großer Strauch, der fast bis zum Dach des zwei­stöckigen Hauses reichte. Der Rand des Hofs war mit Blumen bepflanzt, tulpenähn­lichen Pflanzen in roten und blauen Farbtönen, einige Kletterpflanzen rankten sich an dünnen Holzstäben empor. Hummeln brummten emsig von Blüte zu Blüte, ein sanfter Duft erfüllte die Luft. Der exakt rechtwinklig um den Rasen geführte Weg war mit feinem Splitt befestigt, so dass ihn die Szene an eine Mischung zwischen deutschem Vorgarten und italienischen Atrium erinnerte. An der schattigen Seite des Hofes stand eine Holzbank und zwei Stühle.

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Sie setzten sich und Herg begann, die Überlegungen der Gruppe zu erläutern. Paul sollte bei Anbruch der Dunkelheit aus der Stadt hinunter zum Fluß gebracht werden und dort eine Weile in einem der Höfe arbeiten. Es ging auf die Erntezeit zu, und er war von seinem ersten Aufenthalt dafür bekannt, dass er mit den Tieren gut zurechtkam, besser als die meisten Negser. Mit den Transporten der Nahrungsmittel von den Feldern in die Stadt konnte er auch bei Bedarf problemlos wieder herkommen und zu den eventuell nachkommenden Flüchtlingen aus dem Wald Kontakt aufnehmen.

“Wir werden sie zunächst einmal festsetzen, sicherheitshalber. Wir geben dir dann sofort Bescheid, damit du herkommst und mit ihnen redest. Wir vertrauen nur wenigen von euch; dir, Andra, Kado, Rodion, kaum jemandem sonst. Dein Verhältnis zu Mona hat uns immer etwas erstaunt.”

Paul wunderte sich kurz über das Wissen der Negser von ihren Beziehungen, anderer­seits hatten sie zwei Jahre lang Zeit gehabt, sie genau zu beobachten. Und sein Verhältnis zu Mona verwunderte ihn mittlerweile selbst, die hatte ihn fast ans Messer geliefert. Entweder hatte da die Liebe blind gemacht oder er war grundsätzlich besser in Tierkenntnis als in Menschen­kenntnis. Na ja, tröstete er sich, auch Leute mit Pferdeverstand wurden gebraucht.

Dann kam er auf seine Gedanken über die Explosion im Wald zu sprechen, von der Herg berichtet hatte. Wieder war er über die vorgebliche Unwissenheit erstaunt, mit der die Negser auf seine Beschreibung eines Flugzeugs reagierten.

“Könnt ihr mir sagen, wo sich diese Explosion genau ereignet hat? Ich würde mir die Stelle gern mal genauer ansehen, vielleicht bekomme ich dann endlich auch meinen Verstand wieder.”

Die fünf Negser sahen ihn ablehnend an.

“Der Wald ist tabu”, sagte Dalge ernst. “Es ist verboten, in ihn einzudringen.”

“Aber ihr habt hier Holzbänke, ihr verwendet hier überall Holz. Grabt ihr das aus dem Wüstensand?”

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Herg lächelte.

“Wir pflanzen Bäume unten am Fluß und ernten sie. Das Verbot gilt nur für den Talwald, in dem du gelebt hast.”

“Dürfen wir denn in den Talwald? Wer verbietet euch das?”

“Es ist ein religiöses Verbot. Im Talwald hausen die Bösen, sie haben schon einige von uns geholt. Ihr habt eine andere Religion, für euch gilt dieses Verbot offenbar nicht, die Bösen können euch nichts anhaben, ihr seid zu mächtig.”

“Ihr habt doch nicht wirklich Angst vor Geistern, oder”, wandte Paul noch ein, dann dachte er an die sumpfigen Gebiete, an die feuchte Luft, an die vielen Mücken, die ihn genervt hatten. Möglicherweise waren die Negser an Infektionskrankheiten gestorben, die durch die Insekten übertragen wurden, oder sie waren in der feuchten Luft anfälliger für Erkrankungen der Atem­wege. Sie waren schließlich die trockene Wüstenluft gewohnt. Aus leidvollen Erfahrungen früherer Generationen war dann ein religiöses Tabu geworden.

Er erinnerte sich an das Schweinefleischverbot in Religionen der warmen Zonen. Gerade Schweinefleisch ist ohne ausreichende Kühlung und ohne Berücksichtigung strengster Hygiene in diesen Regionen ein nicht ungefährliches Nahrungsmittel, da es schnell verdarb; also erklärt man es für unrein und das Problem ist gelöst.

Das Thema wurde dann gewechselt, man sprach über den Stand der Erntevorbereitungen und die Mienen wurden fröhlicher. Das Getreide stand gut, die Schädlinge hatten nicht überhand genommen, man konnte zufrieden sein. Witzige Bemerkungen flogen hin und her, fröhliches Lachen erschallte. Paul lächelte höflich mit, verstand aber nur das, was ihm übersetzt wurde. Nur einmal lachte er laut, als man ihm erzählte, wie dumm er ausgesehen hatte, als er sich auf einen der Ochsen hatte setzen wollen und sein Sattel nicht festsaß. Langsam war er dann zur anderen Seite herunter­gerutscht, hatte aber wacker die Hand am Sattelknauf gelassen und war sitzengeblieben, bis er fast unter dem Ochsen hing. Der Ochse hatte angeblich mitgelacht.

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